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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0241
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Bildung als kritisches Korrektiv der Gesellschaft 229

Gestalt der Anleitung dazu, Einschränkungen auf ihre Begründbarkeit zu be-
fragen, soll den Umfang subjektiv möglicher Rationalität erweitern und um-
schlagen in die Bereitschaft einzugreifen und die Gesellschaft zu verändern.19

In diese Aufgabenzuweisungen an die Pädagogik gehen mehrere Prämissen
ein, die offenbar zu diesem Zeitpunkt in weiten Teilen der Pädagogik nicht ei-
gens problematisiert zu werden brauchen. Erziehung als gezielte Einflussnah-
me erschöpft sich nicht in der Einführung in bestehende Traditionen und de-
ren Weitergabe; Bildung als Erfahrungsprozess, der gezielt bewirkt wird durch
die Bereitstellung ausgewählter Erfahrungsmöglichkeiten, zielt nicht lediglich
darauf, individuelle Anlagen auszubilden. Vielmehr geht es um Mündigkeit,
und das heißt vor allem: Selbstbestimmung als Befähigung zu rationalem Ver-
nunftgebrauch ohne die Leitung eines anderen. „Rational" bedeutet in diesem
Zusammenhang die Verpflichtung auf allgemein geltende Regeln, seien es sol-
che der Logik oder sozial anerkannte Regeln. Insofern bedeutet Mündigkeit
etwas anderes als individuelle Freiheit, der immer auch ein Moment des
Willkürlichen anhaftet, da es sich in Gegensatz zum Allgemeinen setzt.

Was Rationalität heißt, muss jedoch neu bestimmt werden, wenn gilt, dass
das gesellschaftlich Allgemeine Züge der Irrationalität trägt, weil der Steige-
rung der Profitrate und deren privater Nutzung durch wenige Eigentümer die
vernünftige Organisation des Ganzen geopfert wird. Emanzipation heißt in-
sofern Distanzierung von diesem falschen Allgemeinen, das als solches durch-
schaubar gemacht werden muss. Dazu bedarf es einer Art Gegenrationalität,
die ihre Gültigkeit aus der Kraft des besseren Arguments herleiten soll.

Schließlich geht als weitere Voraussetzung ein, dass diese Einsicht die Be-
reitschaft zur Veränderung der gesellschaftlichen Realität produziere. Kritik
soll sich von einer diese Realität analysierenden zur praxisbegründenden Ka-
tegorie radikalisieren, analog der 11. Feuerbachthese von Marx: „Die Philoso-
phen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an,

Diese Parallelisierung zweier Reden von Emanzipation - Mollenhauers und Marcuses - be-
deutet nicht, dass sie auf denselben theoretischen Voraussetzungen beruhen - ihre Ähnlichkeit
ist eher dem Zeitgeist geschuldet, der bei unterschiedlichen Perspektiven zu ähnlichen Pro-
blemformulierungen führte. Genauer: Die von Mollenhauer in den sechziger Jahren vollzo-
gene kritische Wende war keine Anknüpfung an die Gesellschaftsanalysen der Kritischen
Theorie - sei es in der Lesart Marcuses, Adornos oder Horkheimers - sondern verdankte sich
»einer Selbstkritik der geisteswissenschaftlichen Pädagogik am Ende ihrer Epoche" (Brum-
lik 1989,115). Die in diesem Zusammenhang von ihr entwickelte „Emanzipationsgrammatik"
(Keckeisen 1984, 207) hatte über Oberflächenähnlichkeiten hinaus „insgesamt nichts oder
nur sehr wenig mit der Kritischen Theorie klassischen Zuschnitts zu tun" (Brumlik 1989,
116), da sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik eher darum bemühte, Erziehungsideale
der deutschen Klassik wiederzubeleben, und dadurch zwangsläufig den „Emanzipationsbe-
griff zugleich abstrakter und normativer ansetzte" (ebd., 117). Die Kritische Theorie verfolgte
hingegen die Bedingungen deutscher Barbarei noch in diese historischen Schichten zurück,
konnte daraus dann aber keine Anlässe für den Optimismus praxisbezogener pädagogischer
Postulate ableiten.
 
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