Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

DOI chapter:
Nr. 35 - Nr. 43 (3. Mai - 31. Mai)
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.44635#0159
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Heidelberger Volksblatt.

Nr. 40.

Samſtag, den 20. Mai 1876.



Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ö

Verleugnet.

Vor einigen zwanz'g Iſihren, unter dem „väter-

lichen“ Regime Nicolaus' I. bi dete einmal das Ta zes-
geſpräch der Reſidenz an der Newa eine geheimnißvolle
Annonce, die gleichlautend und gleichzütig ig all en
Petersbirger Blättern erſchienen war. Dieſes Aufſehen
erregende Inſerat, welches in ſeiner ſteifen Abfaſſung
einen gewiſſen arißokratiichen oder vi lmehr privatſecr⸗⸗
tartellen Urſprung verriet), ko mte in Anbetr icht der
ſtren gen durch die Cenſu: ausgeübten Controlle keine
Myſtificuion ſein. Daſſelbe lautete:
„Die Mutter jenes Kindes, das am verfloſſenen
Samſtag mit einem anony nen Brief vor der Thür eines
Hauſes in der Millionenſtraße ausgeſetzt worde iſt,
wird ven der Dame, an die jener Brief gerichtet war,
aufzefordert, in der Zeitung die Eckärung zu veröffent-
lichen, daß ſie auf alle Mutterrechte an jenes ungluͤck-
liche Weſen Verzicht leiſtet und ſich verpflichtet, dasſelbe
nur mit ſpecieller Erlaub iß jener Dame wiederſehen zu
wolen. Im Falle die Mutter auf die e Bedingung ein-
geht, iſt jene Dame geneigt, dem Kinde die ganze Li⸗be
eines Mutterherzens und die geſe zlichen Richte ei ier
leiblichen Tochter zu gewähreg. Es iſt hoͤheren Orts
dafü: Sorge getragen, daß die Veröffentli hung der Ait-
ſßt in der Zeitung auf keine polizeilichen Henderniſſe
Wer mochte dieſe Dame in der Millionenſtraße ſei 1?
Wie verhielten ſich die näheren Umſtände des keinen
Dram us, das zwi chen dieſen Zeilen ſpielte? — Das
fragte ſich ganz Petersburg.
Noch nie war mit größerer Erwartung die letzte
Selte der Zeitnagen durchflogen worden, als in jenen
Tagen.
Nach Verlauf von vier Tagen löſten endlich folgende
kurze Zeilen die Spannung der Leſer:
ö „Die Mutter des ausgeſetzten Kindes leſtet auf alle
ihre Rechte Verzicht und geht auf die geſtellten Bedin-
gungen ein.“ Damit war die öffentliche Verhandlung
dieſer Angelegenheit zu Eade — zum Bedauern der
Leſer, deren Combinatio as gab: unbegrenzter Splelr zum
gelaſſen blieb. ö
Die Einen ſprachen voll Eatrükung voa jenem gleich-
ailtigen Weibe, die Anderen tadelten die hartherzigen
B dingungen der Adoptivmutter; nur Wenige wollten

ſchärfer geſehen und. zwiſchen dieſen Zeilen die Spuren
brennender Thränen eatdeckt haben. Nach weiteren acht
Tagen hatten alle Muthmaßungen und Combinationen,
die jene Annorce hervorgerufen, ein Ende
Ich muß jetzt einen Zeitraum ven ſiebenzehn Jahren
überſpringen. ö
Ich hätte ein Kapitel einſchirben köanen, das mit
gew'ſſenhafter Au sfährlichkeit von dem Sonnenſtrahl des
Glückes erzählt, der die S irn jenes ausgeſetz en Kindes
küßte, von dem ſtolzen Lächeln, mtt dem eine kinderloſe
Mutter auf ihren heranwaͤchſenden Leebling ſah.
Ich hätte auch neue Figuren in dieſes Kapitel herein-

bringen können — den bloaden Kovf eines elezanten

Gardeoffiziers, deſſen blaue Augn bewundernd auf die
graciöſen Händ des jungen Mächens hinabſahen, das
ſo eifrig an einer Stickerei arbeitet. Ja, ich hätte ſo-
ger ausplaudern kön ſen, wie dieſer blonde Kopf des
Gardeoffiſiers ſich immer mehr je zen zi rlichen Ara-
bezken auf dem ſpin neweb ꝛartigea Stoff näherte und vor
lauter Bewunderung dieſer reizenden Muſter di weiße
bebende Hand des junge: Mädchens küßte und wie dann
eines Tages nun ein gallonirter Lakat uszählige feinge-
e Verlobungskarten in alle Weltgegenden hi aus-
rug. ö
Ich hätte dann noch in einem zweiten, grau in grau
g'malten Kapitel von den reuevollen Tyränen einer an-
dern kiaderloſen Matter erzäylen können, vor ſorgen-
vollen Tagen und ſchlafloſen Nächten, vin harter Ar-
beit um das tägliche Brod, von den rohen Vorwü fen
eines Trunkenboldes, der das kleine Vermögen dieſes
blaſſen Weibes länzſt durch die Kehle gej 1gt hat
Aber ich trage hier nur cultur⸗hiſtoriſches Material zu-
ſammen.
Es waren alſo ſeitdem ſiebzehn Jahre vergangen.
In ſiebzehn Jahren wird dunkles Haar oft ſilbergrau
und der goldglänzende Flanm auf dem Haupte eines
Kin des zum vollen Lockenſchmuck.
Ja einem hellerleuchteten Boudoir ſitzt eine Braut
vor dem Spiegel. Die Kammerzofe hat eben den Myr-
thenkcanz und den Schleier auf dem üppigen Harr be-
fe tigt. Nebea dem Toilettenſpiegel ſitzt eine freundliche
alte Matrone in einem Fautenil zurückgelehnt und be-
obachtet aufnerkſan das junge Mädchen.
Jetzt ſteht fie auf und küßte die Tochter auf die
Stirn. „Wera, Du fiehſt wie eir Engel aus!ꝰ
Das jinge Mädchen betrachtete ſich prüfend im
 
Annotationen