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Heidelberger Volksblatt (34) — 1901

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Nr. 20 (Montag 11. März)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43808#0001
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heidelberger Volksblatt.

Rr. 20.

Montag, den 11. März 1901.

34. Jahrg.

Erſcheint jeden Montag und Donnerstag als Beilage zum „Heidelberger Lokal⸗Anzeiger“ (Neuer Heidelberger Anzeiger.)



Erlebniſſe aus der Fremdenlegion.

Aus dem Tagebuch eines unſerer Leſer.
(Fortſetzung.) (Nachdruck verb oten.
In geſellſchaftlicher Beziehung herrſchen eigentümliche
Zuſtände. Eine eigentliche Ehe kennt der Annamit nicht
es wird vielmehr nur eine Art Vertrag geſchloſſen, der
nach gegenſeitiger Uebereinkunft wieder gelöſt werden kann;
zuwa vorhandene Kinder verbleiben der Frau. Der Mann
at ihr zur Erziehung der Kinder eine Summe Geld zu
zahlen, deren Höhe ſich nach den Verhältniſſen richtet und
om Ortevorſteher in jedem einzelnen Falle feſtgeſetzt
wird. Die Mädchen treten ſchon mit dem zwölften Lebens-
gahre in ein ſolches Vertragsverhältnis. Da die Frauen
aft die geſammte Feidarbeit zu verrichten haber, während
die Männer ſich mit der Hausarbeit und dem Fiſchfang
beſchäftigen, berblühen ſie ſehr raſch; unter den beſſeren
laſſen trifft man mitunter hervorragende Schönheiten

an. Die Einwohnerzahl beläuft ſich auf zwölf Millionen

Seelen, worunter ſich nur ewa 400 000 katholiſche Chriſten
efinden. Die Annamiten find von ſanfter und furcht-
amer Gemütsart, dabei aber höchſt unzuverlüſſig; in
letzterer Beziehung waren uns noch böſe Erfahrungen
vorbehalten. — So war das Land beſchaffen das uns
letzt aufnahm. Nach einer vierſtündigen Fahrt gelangten
wir nach Phu Lang⸗gian, einem großen Dorfe am Song-
iang. Dies iſt ein bedeutender Fluß, der hier eine

reite von achtzig Metern und große Tiefe beſitzt und

ſein ſchmutziggelbes Waſſer dem Song⸗koi zuführt. Wir
wurden in langen aus Bambusſtäben hergeſtellten Ba-
racken untergebracht; als Lager diente uns eine wollene
Decke. Dieſe wurde über eine Art Pritſche gebreitet,
die gleichfalls aus Bambusſtäben beſtand. Ein ſolches
ager war wegen ſeiner Härte etwas unbequem, da kein
Stroh oder Gras vorhanden war, das uns zur Unter-
lage hätte dienen können. Am nächſten Morgen waren
denn auch unſere Glieder wie gerädert, doch nach etnigen
üächten hatten wir uns an dieſes Bett gewöhnt. Später
waren wir häufig noch ſehr glücklich, wenn wir über-
aupt noch eine trockene Unterlage hatten und nicht auf
dem feuchten von Ungeziefer wimmelnden Erdboden liegen
mußten.
Sofort nach unſerer Ankunft erhielten wir Beklei-
dungsſtücke, die dem Klima angemeſſener waren als
unſere disherige ſchwere Tuchbekleidung. An Stelle der
roten Tuchhoſe wurde uns eine ſolche von dunkelblauem
lanell verabfolgt; das Käppi wurde durch einen leichten
it weißer Leinwand bezogenen Korkhelm erſetzt, der
it einem dunklen Tuchüberzug verſehen werden konnte.
Veder erhielt zwei Flanellbinden und anſtatt der Schuhe
mit Gamaſchen, wie wir ſie bisher getragen hatten,
lederne Schnürſtiefel. Die erſten drei Tage vergingen

unter dieſen Zurüſtungen, dann beſtiegen wir wieder die

Kanonenboote und wurden nunmehr weiter ins Innere
gebracht, woſelbſt wir das Fort Tſchu beſetzten. Unter
der Vorausſetzung, daß den meiſten Leſern die Ereig-
niſſe des tonkinefiſchen Feldzuges ziemlich unbekannt
ſein dürften, geſtatte ich mir, an dieſer Stelle die damalige
Kriegslage mit einigen Worten zu ſkizzieren. Frankreich
hatte durch Vertrag mit Annam vom Jahre 1883 die
Oberhoheit von Tonkin erhalten, ſtieß aber auf großen
Widerſtand ſeitens Chinaswelches gleiche Rechte beanſpruch-
te und die im Lande umherſtreifenden Banden der Schwarz-
flaggen im Geheimen gegen Frankreich aufbot. Nach
verſchiedenen Scharmützeln trat China ſchließlich im Ver-
irage von Tientſin im Jahre 1884 ſeine älteren Rechte
an Frankreich ab, zog aber ſeine im Norden Tonkins
befindlichen Truppen nur äußerſt langſam zurück, ſo daß
es bei Baele zwiſchen den Chineſen und den raſch vor-
dringenden Franzoſen zu einem blutigen Zuſammenſtoß
kam, infolge deſſen die Franzoſen über Verrat ſchrieen
und den Krieg nunmehr mit größter Energie wieder auf-
nahmen. Die Schwarzflaggen, urſprünglich die Reſte
von Banden, welche nach Unterdrückung der großen chine-
ſiſchen Taipinrevolution auf tonkineſiſches Gebiet ge-
flüchtet waren und duich Raub und Plünderung der
Schrecken der annamitiſchen Bevölkerung wurden, ver-
einigten ſich mit den Chineſen zur Bekämpfung der
Fremden. Frankreich verſtärkte ſeine Truppen und ver-
trieb die Chineſen zunächſt aus dem Delta; bei weiterem
Vordringen ſtießen die Franzoſen jedoch auf ſo hart-
näckigen Widerſtand, das ſie ſich auf die Verteidigung
des Deltas beſchränken und vor dem Beginn weiterer
Operationen das Eintreffen von Verſtärkungen abwarten
mußten. Mitte Januar 1885 traf das 3. Bataillon
der Fremdenlegion ein, gleichzeitig ein franzöſiſchts Linien-
bataillon vom Regiment Nr. 111 aus Nizza, ſodaß An-
fang Februar 1885 die Feindſeligkeit wieder eröffnet
werden konnten.
Die Streitkräfte der Franzoſen beſtanden nunmehr
aus 6000 Mann Infantrie nebſt zahlreicher Artillerie
und waren in 2 Brigaden eingeteilt. Die erſte Brigade
kommandierte General de Negrier, ein hervorragender
Führer, der ſich bereits in Afrika als Oberſt der Fremden-
legion in den Kämpfen gegen die Araber ausgezeichnet
hatte und im hohen Maße das Vertrauen der Soldaten
genoß, die ihm blindlings folgten. Dieſe Brigade ging
von Tſchu aus gegen Langſon vor, welches die ſtärkſte
Poſition der Chineſen an der Nordgrenze Tonkins war.
während die 2. Brigade unter dem Befehl des Generals
Giovanninelli in nordweſtlicher Richtung vorging, um zu-
nächſt die Beſatzung der „inen Cttadelle Tuyrn⸗Quan.
die ſeit Mitte Januar von den Chineſen eingeſchloſſen
wurde, zu befreien. ö
Die Entfernung zwiſchen Tſchu und Langſon beirug
 
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