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Heidelberger Volksblatt (34) — 1901

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Nr. 20 (Montag 11. März)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43808#0002
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in gerader Linie 90 km, jedoch legten wir in Wirklichkeit
eine viel längere Strecke zurück, da wir, um in Verbin-
dung mit unſeren Kanonenbooten zu bleiben, die Proviant
und Munition mitführten, den Windungen des Fluſſes
Lochnan ſtromaufwärts folgen mußten. Der Marſch
war deshalb ſehr ſchwierig und ermüdend. Es gab da-
mals iu Tonkin nur Fußpfade, die höchſtens 1 bis 1½ m
breit waren, ſo daß meiſtens Einer hinter dem Andern
gehen mußte. Wir kamen daher nur ſehr langſam vor-
wärts. Am Abend des erſten Tages erhielt unſere
Aoantgarde Feuer von einigen im Gebüſch verſteckt lie-
genden Chineſen. Von dieſen wurde einer gefangen.
während die anderen entflohen. Es waren dies Vor-
poſten der Chineſen, die nach Ausſage des Gefangenen
etwa 10 km. von dort entfernt eine ſtark befeſtigte
Stellung beſetzt hatten, durch welche ſie die Straße nach
Lanugſon beherrſchten. Der Vormarſch wurde nun nicht
weiter fortgeſetzt, ſondern wir verließen das Flußufer
und wandten uns weſtlich. Ein am nächſten Tage vor-
genommenne Recognoszirung ergab, daß der Feind ſämt-
liche Anhöhen an der Straße Tſchu Langſon mit Erdbe-
feſtigungen verſehen und dieſe anſcheinend ſtark beſetzt
hatte. Die Kanonenboote wurden nun entladen. Jeder

erhielt für acht Tage Zwieback und Fleiſchkonſerven, ſo-

wie außer den 120 Patronen, die wir bereits beſaßen,
noch 80 Stück, ſo daß wir ziemlich ſtark belaſtet waren.
Zum Transport der Reſerve⸗Munition, der Kranken,
Verwundeten, der Kaſſe ſowie des Gepäcks dienten ein-
geborene Träger, ſogenannte Kulis, die gegen Lohn und
freie Verpflegung hierfür verpflichtet waren. Jede Dorf-
gemeinde hatte eine beſtimmte Anzahl ſolcher Träger zu
ſtellen; weigerten ſich die Gemeinden, wie dies öfter
vorkam, ſo wurden die Träger, gewaltſam genommen;
deſertierte ein Träger, ſo hatte die Gemeinde einen
Erſatzmann zu ſtellen und außerdem ein ziemlich bedeu-
tendes Strafgeld zu zahlen. Nichtsdeſtoweniger kam es
häufig vor, daß Kulis unter Mitnahme der Waren das

Weite ſuchten; wurden ſie ergriffen, ſo wur den fie als

Deſerteure behandelt und ohne Weiteres erſchoſſen.
Da die Annamiten an das Tragen größerer Laſten
gewöhnt ſind, ſo leiſten ſie hierin Erſtaunliches; der zu
tragende Gegenſtand wird an einem langen Stock aufge-
hängt der von zwei Leuten derart getragen wird, daß
jeder ein Ende desſelben auf die Schulter legt; durchſchnitt-
lich tragen zwei Kulis auf dieſer Weiſe 2 bis 3 Zentner
ihr Marſchtempo iſt dabei ein äußerſt ſchnelles. So lange
vom Feinde nichts zu ſehen war, machten die Kulis kei-
ne Schwierigkeiten ſobald ſie jedoch ſchießen hörten, waren
ſie nur durch Drohungen mit der Waffe vorwärts zu
bringeu. Am 4. Februar 1885 morgens 4 Uhr traten
wir unſeren Marſch gegen die feindlichen Schanzen an.
Wir durchſchritten zunächſt ein Thal, durchwateten einen
reißenden Bach, deſſen Waſſer eiskalt war und gingen
dann gegen einen ziemlich bedeutenden Höhenzug vor,
hinter dem die Straße nach Langſon lag. Die erſte
Kompagnie, bei der ich ſtand, war Avantgarde; wir
hatten uns dem Höhenzuge bis auf 1 km genähert und
konnten deutlich erkennen, daß auf demſelben Schützen-
gräben angelegt waren. Kein Feind ließ ſich blicken.
Die Kompagnie erhielt Befehl, ſich gegen die mittlere
und größte Verſchanzung zu wenden, während zwei Bat-

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plötzlich einen heftigen Schlag an der linken Schulter, der

terien unſerer Bergartillerie ihre Granaten dorthin ſandten
Bis auf 400 m gingen wir heran, da plötzlich blitzte
und krachte es vor uns, daß uns Hören und Sehen ver“
ging, überall erſchienen Chineſen, die bis dahin vorzüg-
lich gedeckt geweſen waren und uns nun mit einem raſen“
den Feuer überſchütteten. Einen Angenblick ſtutzten wir,
dann hörten wir, den Höllenlärm übertönend, die Donner-
ſtimme des Kapitäns; „Torniſter abwerfen! Seitengewehr
aufpflanzen! Vorwärts!“ Wie wir den Berg hinauf
kamen, die Chineſen aus der Verſchanzung warfen und
ſelbſt hineinſtürmten, das wußte ich nachher nicht mehr-
Im erſten Augenblick des Kampfes überkam mich ein
Gefühl tötlichen Schreckens. Das Bewußtſein, daß jeder
Augenblick den Tod bringen konnte, lähmte meine Ge-
danken; doch als ich die Stimme meines Vorgeſetzten
hörte, dachte ich nur noch ans Gehorchen und ſtürmte
mit vorwärts. Ohne Aufenthalt ging es bis an die
Verſchanzung, woſelbſt uns die Chineſen die Lanzen ent-
gegen ſtreckten; doch mit dem Bajonett wurde raſch Bahn
geſchaffen. Was nicht wich, wurde niedergeſtochen, und
bald hatten wir den Feind hinausgetrieben. Die Ar
tillerie hatten unſeren Angriff wirkſam unterſtützt, und
während wir bereits im Handgemenge waren, die beiden
anderen Werke mit größtem Erfolge beſchoſſen. Die
Chineſen räumten ſchnell die ganze Stellung, und nun
begann ſofort die Verfolgung. In wirren Haufen zu
30 und 40 Mann flohen die Chineſen, Salve auf Salve
ſchlug in ihre Maſſen, ſodaß der Erdboden bald von
Toten und Verwundeten bedeckt war.
Eben im Begriff, das Gewehr anzulegen, ſpürte ich

mich beinahe umwarf. Ich hatte zuerſt garnicht das Ge-
fühl, verwundet zu ſein, da der Schmerz ſofort nachließ ,
doch fühlte ich das Blut an meinem linken Arm berab-
rinnen, der Arm verſagte mir bald den Dienſt, ſo daß;
ich mein Gewehr nicht mehr halten konnte. Eine Kugel
hatte mich an der linken Schulter derart getroffen, daß
ſie zunüchſt auf den oberſten Mantelknopf aufſchlug, da-
durch in ſtumpfem Winkel abgelenkt wurde und nun die
Schulter unmittelbar am Gelenk traf. Wie mir der
Arzt ſpäter ſagte, konnte ich von Glück ſagen, daß der
Knopf die Richtung bes Schuſſes abgelenkt hatte, die
Verwundung wäre ſonſt unbedingt tödtlich geweſen. Wäh-
rend der Feind in größter Haſt abzog, rief uns ein Sig-
nal nach der eroberten Verſchanzung zurück,, wo zunächſt
unfere Verluſte feſtgeſtellt wurden; dieſelben beliefen ſich
bei meiner Kompagnie auf 45 Tode und 83 Verwundete
unter letzteren etwa 30 Schwerverwundete. Wir hatten
mithin die Hälfte unſerer Lente eingebüßt; trotzdem
waren wir ſtolz auf unſeren Erfolg, da es uns ge-
lungen war einen doppelt ſo ſtarken Feind aus ſeiner
wohlbefeſtigten Stellung zu werfen, ohne einen Schuß
zu thun. Die Änerkennung unſeres Generals de Negrier
tröſtete uns über unſere Verluſte. Die Chineſen hatten
bei der Affaire etwas über 600 Todte verloren.
Der Reſt des Tages wurde benutzt, um die Verwun-
deten zu verbinden, welche demnächſt nach Tſchu zurück-
gebracht werden ſollten. Ohgleich ich kampfunfähig war,
durfte ich bei der Truppe bleiben, da ich mich von mei-
nen Kameraden nicht trennen mochte und der Arzt eine
baldige Heilung meiner Wunde in Ausſicht geſtellt hatte.
 
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