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Heidelberger Zeitung — 1899 (Januar bis Juni)

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https://doi.org/10.11588/diglit.39312#0077
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Fp. 18.

Äulstaz, den 21. Januar

1899.

Die Vorgänge auf Samoa.
Die über Hamburg eintreffenden Nachrichten aus
Samoa lauten wesentlich anders als die über London oder
Ncw-Iork gegangenen. Danach hat der Oberrichter
Chambers die mit sechsfacher Mehrheit erfolgte Wahl
Mataafas umgestoßcn und den minderjährigen Sohn Ma-
lietoas, Tann, zumKönig proklamirt. Daraufhin erfolgte am
nächsten Tage, am 1. Januar, der Kampf. Der in Ham-
burg eingelroffene Bericht erzählt dann weiter: „Die drei
Consuln erkannten die Leute Mataafas unter Leitung des
Muuicipalpräsidenten als provisorische Regierung an. Tann,
Tamasese und Chambers begaben sich an Bord des eng-
lischen Kriegsschiffes „Porpoise", worauf die provisorische
Regierung das oberste Gericht schloß. Am 7. Januar
wurde gegen den Protest des Muuicipalpräsidenten das
Obergericht durch eine von dem englischen Kriegsschiff ge-
landete Abtheilung wieder eröffnet, nachdem die samoanische
Kriegsmacht zurückgezogen worden war."
Die Fassung dieses Berichtes ist äußerst knapp, sodaß
daraus der Zusammenhang der Dinge, die sich dort ab-
gespielt haben, nicht ganz klar wird. In dieser Beziehung
können die englischen und die amerikanischen Berichte als
Ergänzung dienen. Danach weigerte sich der deutsche Konsul,
den eigenmächtig vom Oberrichter Chambers eingesetzten
Malietoa jun. anzuerkennen. Die 5000 Anhänger Ma-
taafa's begannen einen Kampf gegen die 2000 Mann
Tanu's und Tamasese's. 500 der letzteren wurden ge-
fangen, 73 gctödtet oder verwundet. Malietoa jun., Tama-
sese und der Oberrichter flüchteten an Bord des englischen
Kreuzers „Porpoise". Die Mataafa-Leute hatten that-
sächlich die Gewalt in den Händen und bildeten eine provi-
sorische Regierung, die von allen drei Konsuln anerkannt
wurde. Die provisorische Regierung schloß den obersten
Gerichtshof, wahrscheinlich weil der Oberrichter sich ent-
fernt hatte. Dann kam ein Rückschlag. Ter Kapitän
vom Kreuzer „Porpoise" sowie der englische und der
amerikanische Konsul erklärten am 7. Januar dieses Ver-
fahren für ungesetzlich. Die „Porpoise" landete Matrosen,
die den Oberrichter zum Gerichtsgcbäude zurück eskortirten.
Ob Mataafa nach dem Berliner Vertrag vom 14. Juni
1839 wirklich als König nicht wählbar ist, muß augen-
blicklich noch dahingestellt bleiben. Es hat nicht Jeder-
mann diesen Vertrag gleich zur Hand. Jedenfalls wird
die Sachlage von Berlin aus dargelegt werden. Wenn
der deutsche Konsul den jungen Malietoa nicht anerkannte,
so wird er zu seiner Weigerung gute Gründe gehabt haben.
Die weitere Entwickelung der Angelegenheit bleibt abzuwarten,
wobei Deutschland sich durch großsprecherische Worte der Ameri-
kaner nicht irritiren lassen wird. Der amerik. Konsul soll
eine Proklamation erlassen haben, daß der Berliner Vertrag
dieselbe Kraft habe wie ein Gesetz des Kongresses; eine
Verletzung des Obergerichts sei dasselbe wie eine Ver-
letzung des obersten Gerichtes in Washington. Und aus
Washington wird berichtet: Es wurde Befehl gegeben, daß
ein amerikanisches Kriegsschiff nach Samoa
gehe, um nach den Instruktionen des amerikanischen
Konsuls zu handeln, soweit diese mit dem Berliner Ver-
trag übereinstimmcn, der nach Ansicht der amerikanischen
Regierung genau einzuhalten ist, so lange er nicht ab-
geändert werde. Daß ein Vertrag genau einzuhalten ist,
so lange er rechtliche Giltigkeit hat, das ist eine Meinung,
die in Deutschland vielleicht noch besser fundirt ist, als in
Amerika. Man denke z. B., wie Amerika sich bei der
Zuckerbesteuerung über den Handelsvertrag mit Preußen-
Deutschland hinweggesetzt hat. Zuweilen aber sind die
Meinungen über das, was ein Vertrag bestimmt, ver
schieden, und das mag auch hier der Fall sein.

Deutsches Reich
— Der Kaiser Höne am Vormittag des 20. den
Vortrag des Staatssekretärs des Auswärtigen, v. Bülow,
Und hytte Mittags eine Besprechung mit dem britischen
Botschafter.
— In Dr. Sigls Vaterland las man dieser Tage:
»Die amerikanischen Maulhelden werden immer frecher.
Präsidentenhaus zu Washington erklärte der Deputirte
Verry unter stürmischem Applaus: Mir werden vielleicht
swch Deutschland dieselbe Tracht Prügel ertheilen wie
Spanien!!' — Es könnte aber in dieser Beziehung leicht
Umgekehrt gehen. Allein wenn Deutschland um einiger
Bänder, Seide rc. willen, deren Export es vielleicht im
underen Falle verlieren müßte, jede moralische Ohrfeige,
"w über das ,große Wasser' herüberkommt, ruhig einsteckt,
und aus demselben Grunde überdies noch den ,guten
EUezeln' der Jankees, den gleichwerthigen englischen
Schreiern unverdrossen nachläuft und die Stiefel ableckt,
von denen es kurz vorher noch getreten worden ist, dann
Ut es freilich ganz erklärlich, daß die Achtung vor dem
veutschen Namen sich in ihr Gegentheil verkehrt und den
Mexikanischen Maulhelden, die ohnehin schon am Ueber-
ichnappen sind, ordentlich der Kamm wächst. Wahrlich
'"an könnte manchmal versucht werden, sich nach den
'.ulten Wasserstrahlen' Bismarcks zurückzu-
',^hnen, wenn man sieht, wie Deutschland jetzt sogar von
^Ucm halbwilden Räubervolke auch die größten Frechheiten
*uhig hinnimmt."

Deutscher Reichstag. Berlin, 20. Jan. Die Etats-
berathung wird fortgesetzt.
Abg. Frhr. v. Stumm wendet sich gegen die gestrigen Aus-
führungen der Abgg. Möller und Rösickc. Es sei nicht nöthig,
daß der Initiative des Cenralverbandes deutscher Industrieller
die geplante Reform der Bersicherungsgesetze zuzuschreiben sei.
Die Unfallversicherungsgesetze müßten auf territorialem Prinzip
bestehen bleiben. Die Versprechungen der Febrnarerlasse seien
schon jetzt erfüllt. Er stehe noch jetzt auf dem Boden der Er-
lasse und habe zahlreiche Dankschriften erhalten für sein energi-
sches Auftreten. In der Centrumspresse finde man zahlreiche
Klagen der katholischen Arbeiter über den Terrorismus der So-
zialdemokraten. Die Strafgesetze reichten nicht aus, man habe
da nur den groben Unfugsparagraphen und den wolle die Linke
gerade abschwächcn. Der Streik, der nur mit dem Messer in der
Hand geführt werde, sei nicht berechtigt.
Abg. Zubeil (Soc.): Die Zustände der Ziegeleienarbeiter
seien unerträglich. Wenn sich eine Industrie unfähig zeige, einen
menschenwürdigen Zustand ihrer Arbeiter zuzulassen, so möge sie
zum Teufel fahren. In Havelland würden überwiegend polnische
Arbeiter beschäftigt, die weder deutsch lesen noch schreiben kön-
nen. La müßten die nothwendtgsten Verordnungen in polnischer
Sprache angeschlagen werden. Das Schandwesen der Kinder-
arbeit sei immer noch nicht abgeschafft. Weibliche Fabrikinspektoren
seien durchaus nothwendig.
Staatssekretär Dr. Graf v. Posadowsky: Der Vorredner
behauptet, daß in den Ziegeleien ein ungesetzliches Trucksystem
herrsche. Nach der Gewerbeordnung ist aber ein Verkauf von
Lebensmitteln gegen Anrechnung des Werthes bei der Lohnzah-
lung nicht verboten. Die Uebertretungen der Gewerbeordnung
müßten von den Betheiltgtcn angezeigt werden. Ebenso sei die
Beschäftigung von Kindern in Ziegeleien nur dann erlaubt, wenn
sie nur vorübergehend oder in geringem Um'ange betrieben werde.
Andernfalls liege eine Verletzung der Gewerbeordnung vor, die
zur Anzeige gebracht werden müsse. Die Mißstände in einzelnen
Ziegeleien seien zum Theil daraus zu erklären, daß sie vielfach
weit abliegen und dadurch der Controle entzogen sind. Die
Bundesralhsverordnunge» aber hätten schon viel gebesseit. In
Bayern habe man die Absicht, drei weibliche Fabrikinspektoren
anzustcllen, die Frage sei aber noch zweifelhaft. Wenn er gestern
den Vorwärts gelobt habe, so werde er es immer wieder thnn,
wenn er und die anderen sozialdemokratischen Blätter die Hand-
lungen der Regierung unparteiisch beurtheilen. (Bravo)
Abg. Frhr. Hehl zuHcrnsheim betont, daß die Aus-
führungen des Abg. Bassermann über sociale Grundsätze durchaus
im Sinne der nalionalliberalen Partei gemacht worden seien.
Die Angriffe auf den Secrctär des Centralverbandes der deut-
schen Industriellen in der Jndustriezeitung haben das Mißfallen
ber nationalliberalen Partei erregt. Die Arbeitgeber haben
einen schweren Standpunkt in ihrem Beruf. Der Kampf gegen
die Socialdemokratie müsse fortdauern. Die Nationalliberalen
wünschen, daß ein frischer Zug in die Socialpolitik hineinkomme.
Abg. Dr- Hitze (Centr.) begrüßt den frischen socialpolitischen
Zug in der Rede des Abg. Hehl zu Hernsheim und betont, die
kaiserliche Botschaft vom Jahre 1898 sei noch nicht in dem
Umfange erfüllt, wie es Frhr. v. Stumm behauptete. Bei den
Fabrikinspektionen müßten Arbeiter als Leiräthe zugezogen werden.
Abg. Singer lSoc.) führt aus: Wir werden nach wie vor
alle Gesetze, die ein Minimum von Schutzmaßregeln für die
Arbeiter nicht enthalten, ablehnen. Wir sind nicht hierher
gekommen, um »ationalliberale Gesetze zu machen. Der Abgeord-
nete v. Stumm wolle Deutschland mit einer chinesischen Mauer
umgeben, damit kein Sozialdemokrat hineinkomme. Er sei nicht
mehr ernst zu nehmen. (Ohol) Deutschland könne keine Gesetz-
gebung im Sinne des Abgeordneten Stumm einführen.
Abg. Zwick (freist Volksp.) betont die Bereitwilligkeit der
freisinnigen Volkspartei, an der Arbeiterschutzgesetzgebung mit-
zuwirken. Seine Partei stehe dem Wunsche nach Ausmerzung
der Kinderarbeit in den Gewerbegebieten wohlwollend gegenüber.
Staatssecretär Dr. Graf v. Posadowsky beantwortet einige
ihm im Verlaufe der Erörterungen gestellte Anfragen und äußert
sich kurz über die Kinderarbeit.
Hierauf vertagt sich das Hans. Nächste Sitzung morgen 1 Uhr.
Baden. 8. 6. Karlsruhe, 20. Januar. Vor der Straf-
kammer als Berufungsinstanz kam heute die Beleidigungsklage
des Militärvereinspräsidiums gegen Geistlichen Rath
Wacker und Redakteur Häfner und deren Widerklage gegen
Oberstlieutenant a. D. Platz zur Verhandlung. Am 15. Rov.
v. I. wurden, wie man sich erinnert, Wacker und Plag zu je
100 Häfner zu 20 Geldstrafe vom Schöffengericht wegen
Beleidigung verurtheilt. Die Klage stützte sich auf den bekannten
Artikel im Militärvereinsblatt und die Erwiderung im Badischen
Beobachter. Gegen das schöffengerichtliche Urtheil legten beide
Parteien Berufung ein. In der sechsstündigen Verhandlung
wurden im Wesentlichen von beiden Parteien dieselben Gesichts-
punkte geltend gemacht, wie in der Sitzung des Schöffengerichts.
Die Entscheidung der Berufungsinstanz ging dahin: Das schöffen-
gertchtliche Urtheil wird, soweit es die Bestrafung der Angeklagten
Wacker und Häfner betrifft, abgeändert. Die Strafe des Geistl.
Raths Wacker wird auf 300 erhöht; Redakteur Häfner
wird nicht bloß der Beihilfe, sondern der öffentlichen Beleidigung
schuldig erkannt und zu 100 G el d strafe verurtheilt. Im
übrigen wird das schöffengerichtliche Urtheil aufrecht erhalten, so
daß es bei der gegen Oberstlieutenant Platz erkannten Geldstrafe
von 100 verbleibt. Die Kosten der Berufungsklage trägt jede
Partei für ihren Theil. Das Gericht nahm an, daß Wacker die
Artikel gegen das Militärvereinsprästdtum in der Absicht zu be-
leidigen geschrieben hat und schloß dies aus der Form, den ge-
wählten Ausdrücken und den begleitenden Umständen. Wacker
wußte schon vor feiner wiederholten Aufforderung, daß er vom
Präsidium keine weitere Erklärung zu erwarten habe, er konnte
also schon damals klagen, aber er wollte nicht; er hat sich belei-
digt gefühlt und wollte Vergeltung üben; deßhalb hat er
fortgemacht und darnach seine Ausdrücke gewählt. Dagegen
wurde in Rücksicht genommen, daß Wacker der angegriffene Theil
war, also in der Abwehr handelte, sonst hätte mit Rücksicht auf
die Schwere der Beleidigungen" und auf den Umstand, daß er
zwei Männer in hochachtbarer autoritativer Stellung angegriffen
hat, die Strafe höher bemessen werden müssen. Im übrigen
kommt in Betracht, daß Wacker mit Vorbedacht und Ueberlegung
die That ausgeführt und drei Offiziere au ihrer verwundbarsten
Stelle, der Ehre, angegriffen hat. Die Berufung des Oberst-
lieutenants P'atz wurde verworfen, weil das Gericht annahm,
daß Herr Platz die Beleidigung gewollt habe. Denn als gebil-
deter Mann mußte er wissen, daß viele Leser den Artikel des
Mil.-Vereinsblattes auf Wacker beziehen werden.
Preußen. Dem allkatholischen Bischof Dr. Weber
und dem Professor der altkatholischen Theologie an der
Universität Bonn, Dr. Reu sch, wurde der preußische
Kronenorden 2. Klasse verliehen.

Aus der Karlsruher Zeitung.
— Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben
dem Kaiserlichen Kreisbauinspektor Blum in Molsheim das
Ritterkreuz zweiter Klasse mit Eichenlaub, dem Direktions-
Mitglied der Firma Philipp Holzman» u. Cie. in Frankfurt
a. M. Wilhelm Lauter das Ritterkreuz zweiter Klasse des
Ordens vom Zähriuger Löwen, dem Zucbtviehhändler Karl
Kroetenheerdt i. Plauen i. V- das Verdienstkreuz vom
Zähringer Löwen verliehen; dem Grafen C. Oberndorfs
in Heidelberg die Erlaubniß zur Annahme und zum Tragen
des ibm verliehenen Groß-Komthurkreuzes des Königlich
Bayerischen St. Georgs-Ordens und dem Königlich Schwe-
disch-Norwegischen Konsul, Kommerzienratb Robert Koelle
in Karlsruhe die E.laubniß zur Annahme und zum Tragen
des ihm verliehenen Kommandeurkrelizes 2. Klasse des König-
lich Schwedischen Wasa-Ordens ertheilt.
— Sekretariatsassistent Wilhelm Hell wurde zum Se-
kretär bei der Großb. Oberdircktion des Wasser- u. Straßen-
baues ernannt. Güterexpeditor Rudolf Charrier in
Karlsruhe wurde unter Ernennung zum Stalionsverwaltcr
nach Efringen-Kirchen uno Stationsverwalter Heinrich Merz
in Tbaingen unter Ernennung zum Güterexpediior nach
Karlsruhe versetzt.
Karlsruhe, 20. Jan. Der G ro ßhe rzog empfing
gestern den General der Infanterie z. D. Freiherrn Roeder
von Diersburg, Präsidenten des Badischen Militärvereins-
verbands, zu längerem Vortrag. Die Fürstin zu Hohen-
lohe-Langenburg traf gestern von Straßbnrg hier ein und
stieg bei der Fürstin zur Lippe ab. Heute Mittag besuchte
die Fürstin die Großherzvglichen Herrschaften und nahm
mit ihrer Schwester an der Frühstückstafel bei Ihren
Königlichen Hoheiten theil._
Ausl a n d.
Oesterreich. Wien, 19. Jan. Im Abgeordneten-
hause wurde heule die Obstruktion fortgesetzt. Zu-
nächst werden namentliche Abstimmungen über Anträge zum
Sitzungsprotokoll vorgenommen. Dann forderte die Op-
position die völlige Verlesung des umfangreichen Einlaufes,
die fast zwei Stunden beanspruchte und die Schriftführer
sehr ermüdete. Als hierauf der Präsident, noch bevor die
Petitionen verlesen waren, die Sitzung schließen wollte,
riefen die Sozialdemokraten eine lange und stürmische Er-
örterung über die Tagesordnung hervor. Sie wiederholten
ihren Antrag, daß die Aufhebung des Zeitungsstempels in
der nächsten Sitzung als erster Gegenstand auf die Tages-
ordnung gesetzt werden soll und ersuchten die Parteien der
Linken, die Obstruktion aufzugeben. „Wenn Sic", rief
D aszyinski der deutschen Opposition zu, „mit uns auf
die Straße gehen und die Etablirung des § 14 verhindern
wollen, so versprechen wir Ihnen, uns Ihrer Obstruktion
anzuschließen. Aber es scheint, daß Ihnen der Z 14 auch
bequem ist." Diese Worte entfesselten einen Sturm des
Widerspruchs. Als Wolf den Sozialdemokraten zurief,
der Zeitungsstempel sei der Köder, mit dem die Regierung
sie fangen wolle, schrie ihm Schrammel zu: Schweigen
Sie, Volksbetrüger! worauf Wolf heftig erregt enlgegnete:
Sie sind derselbe Schurke und Lügner wie der Abgeordnete
Daszy nski l Die Debatte endete mit der Ablehnung aller
zur Tagesordnung gestellten Abänderungsanträge. Die
nächste Sitzung findet Dienstag statt. Auf der Rechten
sagt man, das Haus werde nur noch zwei Sitzungen ab-
halten; Ende nächster Woche werde in Ungarn die Lage
geklärt sein, worauf für den Grafen Thun die Bahn frei
sei für die Oktroyirung des Ausgleichs. Auf der Gallerte
sah man zwei Mitglieder der ungarischen Obstruktion.
Wien, 19. Jan. Eine eigenartige Kundgebung wurde
der Offiziersdeputation des Kaiser Franz-Garde-
Grenadierregiments bereitet. Die Deputation, mit dem
Obersten v. Schwartzkoppen an der Spitze, besuchte gestern
Abend die Vorstellung im neuen Wiener Kolosseum, wo-
selbst sie mit dem „Heil Dir im Siegerkranz" von der
Kapelle empfangen wurde, nach dessen Schluß das zahl-
reiche, elegante Publikum in stürmische Hochrufe ausbrach.
Diese Kundgebung macht großes Aufsehen, da eine ähn-
liche in Wien noch nicht vorgekommen ist.
Wien, 20. Januar. Ursprünglich wollte Kaiser
Franz Josef noch einige Zeit in Zurückgezogenheit zu-
bringen, unterbrach dieselbe jedoch, um die preußischen und
russischen Offiziersabordnungen zu ehren. Der Empfang
der preußischen Abordnung in der Hofburg war sehr warm,
geradezu kameradschaftlich und gemüthlich. Aus dem Trink-
spruch des Kaisers ist besonders beachtenswerth der Aus-
druck lebhafter Freude über die Ehrungen, die ihm in
Berlin zntheil geworden seien, und die Betonung „unver-
brüchlicher Bundestreue". Die Dankrede des
Obersten o. Schwartzkoppen machte einen vortrefflichen
Eindruck.
Frankreich. Paris, 19.Jan. Im Senat machten heute
die Drcyfusgegner einen Vorstoß, indem sie den Senator
Chamaillard mit einer Interpellation über die Affäre
Picquart vorschickte, Chamaillard richtete heftige Angriffe
gegen den Kassationshof, der Picquart dem Kriegsgericht
entreißen wolle, ferner gegen die Juden und d>c Feinde
der Armee. Der Justizministcr beklagte die Interpellation,
die zu unfruchtbaren Debatten führen müßte. Schließlich
wurde eine von der Regierung acceptirte Tagesordnung,
die die Erklärungen der Regierung billigt und die
Trennung der Gewalten anerkennt mit 212 gegen 28
Stimmen angenommen.
Paris, 20. Jan. Der Cassationshof hielt
heute Vormittag eine Sitzung bei verschlossenen
 
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