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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203 - 228 (1. September 1903 - 30. September 1903)
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https://doi.org/10.11588/diglit.11499#0560
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offiziere vom Platz, sowie verschiedene andere Dienst-
stellen in Wegfall kommen. Weiter meldet das gleiche
Blatt, daß die Festung Germersheim demnächst
Reichsfestung werden soll.

Ausland.

Frankrcich.

Marseille, 17. Sept. Das Zuchtpolizeigericht verur-
teilte heute die beiden Jtaliener Picolo und Fachino,
welche am 9. August mit Tomaten nach dein Minister-
präsidenten Combes geworfen hatten, wegen Be-
schimpfung eines Ministers in seiner amtlichen Tätigkeit,
WiderstaNds gegen die Staatsaewalt und wegen Tra-
gens von Waffen zu 6, bezieMntlich 3 Monatm Ge-
fängnis. i «o

England.

London, 17. Sept. Die gestern Morgen veröffent-
lichte Broschüre des Premierministers hat
einen riesigen Absatz gefuuden. Der Verlag erklärte
schon in den Vormittagsstunden, daß die erste Auflage
vollständig vergriffen sei, und die Buchhändler fangen
schon an/ Mr. Balfour mit derselben Bewunderung zu
betrachten, die sie seit Jahrsn der Romanschriftstellerin
Miß Maris Corelli esttgegenbringen. Beide „gehen"
gleich gut. Schon am frühen Morgen, heißt es, seien
die Buchläden belagert gewesen, die Leute verlangten alle
sofort nach einem Exemplar, sobald sie aus den Zeitungen
ersehen hatten, worum es sich handelte. Da der Preis
nur einen Schilling beträgt, bildete er kein, Hindernis.
Ein Buchhändler hat sogar berechnet, daß er während des
ganzen Vormittags durchschnittlich zwei Exemplare per
Minute verkaufte. Kein Wunder also, wenn der Premier-
minister jetzt schnell populär wird, wenigstens unter den
Buchhändlern!

71 Lvndon, 17. Septbr. Die Anklage-Jury hat be-
schlossen, den Finanzier Whitaker Wrigt vor das Gericht
zu stellen. Dieser Finanzier war, wie seinerzeit gemeldet,
am 26. August unter der Anklage, die Bilanz der London-
und Globe-Finanzkorporation gefälscht zu haben, vor dem
Guildhallpolizeigsricht erschienen, aber gegen eine Bürg-
schaft von 60 000 Pfd. auf freiem Fuß belassen wordem
Jtalien.

O Neapel, 17. Sept. Wie der „Matino" ^ldef/ wird
die Reise des Kaisers und der Kaiserin/chon
RußIand nach Jtalien zwischen dem 20. und 30. Ok-
tober stattfinden. Der Aufenthalt in Rom sei auf 3 Tagö
vorgesehen. Jn der Begleitung des Kaisers werden die
Minister Lamsdorf und Frederics sich befinden.

Belgien.

Brüs s e I, 16. Sept. Nach einem vom Ministerium
des Jnnern veröffentlichten Ausweis über die belgi-
schen Klöster und Ordensleute erscheint das
Land als erstklassiger Nährboden für Ordensleute. Ob-
gleich die Statistik nur bis zum 31. Dezember 1900 reicht,
demnach die nach Hunderten eingewanderten französischen
Ordensleute nicht mitrechnet, führt sie folgende interessante
Zahlen an: M ä n n e r k I ö st e r 123, Zweignieder-
lassungen 120. Diese 243 Anstalten beherbergen 4177 in
Belgien und 1328 im Auslande geborens Mönche. Non-
nenklöster gibt es 674 mit 1341 Zweigniederlassungen,
mit 25 606 belgischen und 3799 ausländischen Genossin-
nen. Außerdem sind 737 Mönche und 2363 Nonnen von
ausländischen Mutterhäusern abhängig. Die Gesamtzahl
der Ordensleute belief sich somit bereits am 31.
Dezember 1900 auf 37 906, gegen 30 098 im Jahrs
1890. Jhre Tätigkeit hat auf den Gebieten der Politik,
des Gewerbes und des Unterrichts bereits bedenkliche
Folgen gezeitigt, und es ist leicht begreiflich, daß sich der
Mittelstand mit den liberalen Partsien und dem Lehrer-

arbeiten fast kostenlos ausgeführt und die Erzeugnisse in
katholischen Familien und Verkaufshäusern abgesetzt.

Spnnicn.

— Bei der Madrider Polizei, bie doch wie jede Be-
hörde dieser Art dazu da ist, Vergehen zu verhüten und
die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, sind gar arge

Dinge entdeckt worden. Man kam namlich bei der hock?
wohllöblichen Polizei von Madrid selbst allerlei Vec-
brechen auf die Spur. Es hat sich herausgestellt, daß die
meisten Mitglieder der Polizei Mitarbeitsr der Verbrecher
waren. Sie teilten mit den Dieben uttd Betrügern und
fungierten als Beschützer von Dirnen, als Hehler und
Besitzer von Spielhöllen und öffentlichen Häusern. Die
Regierung hat den Chef der Polizei und sämtlichs Be->
amte abgesetzt und eine Untersuchung angeordnet.

Vom sozialdemokratrschen Parteitaq.

v.

Drcsden, 18. Sept.

Heute wurde die revisionistische Debatte fortgesetzt. Als
Erster spricht Vollmar: Bebcl, so führte er nach dem Bef
richt der „Franks. Ztg." aus, hat die innere Lage der Partci
so geschildert, wie sie ihm erscheint. Wenn ich ihm antworte,
bin ich im Nachteil, weil mir einige seiner Mittel nicht Ge^
botc stehen. Jch appelliere nie an die Phantasic und das Ge/
fühl, sondern nur an die ruhige Ueberlegung. Das Kampst
feld ist ganz verschoben worden. Jch muß also erst die Sache
soweit einrenken, daß man sie wieder erkennen kann. Berw
stcin hatte zweifellos das Recht, die Frage aufzurollen, wcnh
er es für nötig hielt. Bebel hat gestern in Bezug auf d>e
Versammlung, in der ich darüber sprach, gesagt, man wisse ja,
wie solche Versammlungen zustandekommen. Sollen wir wobl
um obrigkeitliche Erlaubnis bei Bebel anfragen, wenn wir einc
Versammlung abhalten wollen? Es heißt immer, die MeU
nungsfreiheit unter uns sei gesichert, ja, aber es ist ebenso tvic
das niilitärische Beschwerderecht. Sagt einer etwas, Ivas dcr
Majorität nicht Patzt, dann fallen sie wie die Wölfe über ihn
her. So geschieht es auch Bernstein und das hat mich schon
lange angeekelt. Das war ein Grund, warum ich meine Mün^
chener Rede HLlt. Freilich, als Bernstein seinen Artikel ver^
öffentlichte, da sagte ich, jetzt ist die Sache verpaßt. Aber ich
mußte noch darüber öffentlich sprechen, da ich schon vor S Jah--
ren in der Fraktion die Frage angeregt hatte. Jch verstehc,
daß die Gemüter in eiiM» Teil des Reiches über diese Fragc
sich erregt haben, aber man muß die Gefühlsseite weglassen,
und ich glaube, daß die Partei derartige Fragen noch einmcn
anders enipfinden wird als heute. Aber nachdem nun cinmcn
die Partei so empsindet, wie es der Fall ist, ist ganz selbstver--
ständlich die Angelegenheit damit erledigt, denn die Partei ent--
scheidet. Es ist gesagt worden,, schade, datz wir keine Geschichte
der Parteitaktik haben. Jciwohl, schade, denn da hätten wst
eine Geschichte der prinzipiellen Versumpfung unserer Partei,
(Sehr gut!) Was ist nicht aKS'Ms Giftbecher angesehen wor(
den,, ynd dann hat die Partei Hn'doch getrunken und sich dabci
sehx iöyhl hefunden. Nur wurd'e freilich die Giftetikette dann
isitmSr, einem anderen Glase angehängt, das allerdings naÄ
einigdr Zeit auch wiedcr geleert wurde. Erinnern Sie sich nur
än Liebknechts frühere Ansichten, an die Teilnahme am Se^
nioren-Konvcnt, an. die Marrsche Kritik, das Gothaer Einig^
ungsprogramm, an die Wandlung unserer Ansichtcn über da?
Gewerkschaftswesen usw. Damals rcgtc Bebel sich darüber auf,
daß wir einmal mit Bürgerlichen ein: Konferenz über Ar^
beitsnachweis hielten. Das war Wadenstrümpfelei, sagte er>
und zwei Jahre später hat derselbe Bebel in Zürich mit Bür^
gerlichen getagt auf der Arbeiterschutzkonfcrcnz. (Bebel rust
dazwischen.) Ja, lieber Bcbel, ich hatte die Wadenstrümpst
schon, du mußtest sie dir damals erst erwerben. (Heiterkeit.)
Wir sind auch schließlich für vieleDGesetze eingetreten, voN
denen es anfangs hieß, dafür zu stimmen, verstoße gegev
unscre heiligsten Parteitraditicmen. Dnnn der ganze Komplcs
der Wahlbcteiligungsfrage! Einst wurde in Berlin beschlosscn,
die Beteiligung an Stadtverordnetenwahlen sel zu verwerfen-
sie fördere nur das Strebertuni. Nun, ich habe bis jeht von
Strebertum nichts bemerkt. Vielleicht macht das die Eiü^
fernung. (Sehr gut!) Ich kenne ja die innerprcußischen Vei^
hältnisse so wenig, als Sie die baherischen gut kennen (Heitcr-
keit), aber ich hörte, daß Berliner Stadtverordncte die Amtk^
kette mit dcm Bild Friedrich Wilhelms III. auf der Brust tra^
gen. Also nnr soll ein Wadcnstrumpf die Waden vcrbrennen,
aber das Bild des Königs auf der Brust schadet nichts. (Heü
terkeit.) Jch sage, es hat stch gcrr vieles gewandelt; unsere
Bewegung war eben Bewegung, nichts Feststehendes. Das war
so und wird immer so sein und das muß doch auch einmal
sagt werden. Zwischen heute und dem Endziel ist noch H
manches, wovon unsere Schulweisheit sich nichts träumcn läßn
Man mag noch so viele Rücksicht auf Bebels Tcmpcrament
uehmen, einen Freibrief für alles gibt es ihm doch nicht. (Sehl
j richtig!) Das ungezügelte Temperament schadet nicht nur aul
> Fiirstenthronen, sondcrn auch auf Parteithronen. (Lebhaftcc
Veifall.) Wer nndere beherrschen will, muß erst sich selblt
beherrschen. (Beifall.) Wentt-Bebel so empfindlich ist gegH
die leiseste Berührung, dann ,sall,er auch nicht gegen andere
losfahren mit ciner WahllosiDeit dcr Mittcl wie hier.
gibt noch mehr Lsute als ex, die etwas für die Partei getat)
baben. Er soll ihnen die Arbeit nicht vcrckcln. Er maßte si^
sogar an, auch über die persönliche Ehre von Genossen un-
Genossinnen absprechend zu urteilen, Eisner hicr vorzunehmcn-
die Genossen iix,wahre und falsche einznteilen usw. Bebel hnk
üann ganze Laudstriche als schlecht hingestellt, den Süden,
Bayern, München, däs/Capua dcr Sozialdemokrntie. Ja, e^

Der Bund umfaßt mehr als zwei Millionen alter Soldaten.
Die rund 1 460000 Mark betragendsn Bäukosten für das
Kyffhäuser-Denkmal sind nunmehr sämtlich bezahlt. Von
allgemeinerer Bedeutung waren die Verhandlungen über
die Stellung der Kr i e g e r v sr e in e zur Sozial-
demokratie. Es herrschte Einstimmigkeit darüber, daß
Sozialdemokraten den Kriegervereinen nicht angehören
Lürfen und daß die Sozialdemokratie innerhalb der
Kriegervereine bskäMPft werden müfse, da diese die Auf-
gabe haben, monarchischen Geist und nationale Gesinnung
zu pflegen.

— Gar gewaltige und tiefe Kenntnifse der süddeutschen
Verhältnisse hat Herr Bebel gezeigt, als er auf dem sozial-
demokratischen Parteitag in Dresden ausrief, Süddeutsch-
land sei in ökonomischer Beziehung rückständig, Nord-
deutschland sei darin weitex; horgeschritten. Wir wollen hof-
fen, Laß die sozialdemokränfchs Presse Süddeutschlands ein
Wort der Erwiderung aus, dieses lisbenswürdige Kompli-
rnent finden wird.

L1 Berlin, 1)7. Sept. Die „Nordd. Allgem. Ztg." fchreibt:
Auf die Petition der D e utschenGesellschaft zur
Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten zing
von dem Reichskanzler dcm Vernehmen nach eine Antwort ein,
worin der Reichskänzler mitteilt, daß er aus der Petition gerne
die Veranlassung, genommen habe, den Staatssekretär des Jn-
nern um Erwägungen zurBekämpfung derKur-
Pfuscherei, jedoch nicht für ein, sondern für alle Gebiete
der Heilkunde zu ersuchen.

Badcn.

— Ueber dis Kandidatur des Bürgermeisters Häf-
ner für Ettlingen hat-,Kch der Vorgeschlagene nun
felbst vernehmen lassen. Jm katholischen Arbeiterverein
erklärte er, seine Pslichten aMBürgermeister stünden ihm
«n erster Stelle; er werde seine ganze Kvaft dem Dienst
widmen. Wenn man aber in ihm den geeigneten Mann
im Jnteresse der Stadt und des Bezirks erkenne, so werde
er auch ein Landtagsmandat annehmen, dies jsdoch nur
dann, wenn die.gewissen Herrsn, denen er Lie Nichtan-
nahme versprach, ihn von diesem Versprechm entbinden.
Würden sie ihn nicht freiwillig entbinden, so müsse er auf
das Mandat verzichten. Die Erklärung ist loyal, denn
wenn die Entbindung freiwillig geschieht, so steht der
Kandidatur kein BedMen entgegen; deswegen sollte ver-
mieden werde»,-rn.Ei-Zentrumspresse einen Druck auf
die/FrLiwilligkeit dsx Mntbindung auszuüben. Die Sache
ist-haupFächkich snr das Zentrum von Wichtigkeit, denn
Hstfnep ftand^zn -Ler Wacker'schen Mchtung in einem ge-
wissen Gegensaß, der bei seiner unabhängigen Stellung
Disweilen im „Ettl. Landsm." zum Ausdruck kam, als das
Matt noch dem jetzigen Bürgermeister gehörte.

Karlsruhe, 17. Sept. Ein Teilnehmer an den
letztjährigen Lehrerexerzitien im Kloster Beu-
-ron hat sich von den „herrlichen" Vorträgen des Paters
Thimoteus u. a. nachfolgende Sätze notiert, die er
im „gut katholis-chen" „M agazin für Pädagogik"
veröffentlicht:

„Es ist schwer zu unterscheideri, zwischen Pflicht und
politischen Bestrebunzen. — Als kcitholischer Leh-
rer müssen Sie ein bestimmtes Ziel im Auge haben; man muß
nicht alles mitmachen. — Die Lehrer sollten sich keine Luft-
schlösser bauen (welch' „herrliche" Worte! D. E.) dadurch
werden sie nicht glücklich. — Kann män mit gutem Gewissen
dem Allgemeinen Deutschen Lehrerverein
beitreten? (Aha!) Der Bayerische Lehrerverein ist beige-
treten; das war ein F e h l e r. Den Beitritt kann ein ka -
tholischer Lehrer nicht mit seinem Gewissen veremigen.
Mit den Pestalozzianern und ebenso mit Disterweg kann ein
katholischer Lehrer nicht in allem mitmachen. — Gehen Sie den
Weg, den Sie der Bischof weist! Letztes Jahr ist in Schwa-
Len auf dem lllmer Katholikentag ein Reis in die Erde
gesenkt worden. Gehen Gie konservative Wege!"

Wir beneiden die zwölf Lehrer nicht, die-, diese und
ahnliche „herrliche" Worte mit anhören durften. Wir
wundern uns auch nicht, wenn die Zentrumspresse für
Disse „Exerzitien" so sehr die Werbetrommel rührt; obige
Zeiten aus dem „Magazin" sagen genug.

Bayern.

— Die „Augsb. Abendztg." will wissen, daß bei der
Militärverwaltung die Absicht bestehe, die Festung
Jngolstadt ihrer Eigenschaft als Festung ersten Gra-
des zu entkleiden und sie in eine Festung zweiten Grades
umzuwandeln. Dadurch würden der Posten eines Gou-
verneurs, eines Gensralstabsoffiziers, eines der Artillerie-

Berater und Helfer. Die finanzielle Lage der Familie war
nicht glänzend. Pastor Steinert hatte sein Kapitalvermögen
durch unglückliche Spekulationen in Aktien und anderen Wert-
papicren verloren; die Einnahmen der Pfarrstelle waren nicht
bedeutend, reichten knapp für das tägliche Leben und die nö-
tigen Badersistn. Frau und Kinder mußten entbehren,
der kranke Mann war selbstsüchtig und mürrisch geworden.
Alles dies teilte Ludmilla dem Freunde mit, sanft, traurig,
mit einer Duldermiene, die ihm zu Herzen ging. Sie bat um
seinen Rat, seine Hilfe bei der Gestaltung des künftigen Le-
bens. Vom Todestage an hatte sie als Witwe das Anrecht,
noch ein halbes Jahr in der Pfarrei zu wohnen und auch die
Einnahmen derselben zu empfangen, nach dieser Zeit trat sie
tn den Besttz des Lokal-Witwentums und später zahlte die Ber-
liner Prediger-Witwenkasse, je nach dem Cinkommen, der Wit-
we Steinerts ungefähr hundert Taler jährlich. Karl rechnete
nnd rechnete alles zusammen. „Es wird gehen, Milla", trö-
stete er dabei, „es wird schon gehen, „verzage nur nicht um
Geldeswillen", fügte er noch mit einem warmen langen Blick
in ihre noch immer feürigen schwarzen Augen hinzu, „wir
Lringen's schon durch."

„Sind von Seiten des Verstorbencn keine Verwandten da,
die etwas für die Erziehung der Kinder beisteuern könnten?"
sragte Karl.

„Ja, es lebt eine unverheiratete Schwestcr als Lehrerin
an einer Volksschule in Berlin, die hat früher schon einmal
Lem Bruder versprochen, die Klara gegen eine kleine Entschä-
digung bei sich aufzunehmen, um ihr großes musikalisches Ta-
lent ausbilden zu lassen, durch welches sie möglichst früh selbst-
ständig werden sollte, nämlich sich durch Musikunterrichtsstun-»
den erhalten zu können. Diesen Voxschlag hat die Schwester
-gemacht, nachdem der Bruder sein Vermögen verloren."

„Das ist ja ganz gut und schön", meinte Karl. „Da haben
wir ja bereits eine Ausstcht."

Pläne wurden gemacht und verworfen und alles Fremdsein
überwunden. Ganz unwillkürlich sagte Kärl zu Ludmilla —

wir — er identifizierte sich ganz mit der Familie, ohne ein
etwa näher bezeichnendes Wort zu gebrauchen.

Auf den 2. Januar des neuen Jahrxs hatte er seine Ab-
reise festgesetzt, und am Morgen dieses Tages war dann fest
beschlossen, daß Ludmilla vom Mai oder Juni an ihren Wohn-
sitz in Z. nehmen solle und wolle.

Er kehrte heim, innerlich ein anderer geworden, als er vor-
dem war, äußerlich derselbe freundliche Mann, nur nicht im-
mer zu den gewöhnlichen Unterhaltungen im Club mit seinen
Freunden aufgelsgt. Er war mitunter mit seinen Gedcmken
nicht bei Ler Sache, war zerstreut, sogar vergeßlich.

Etwas war diesen an seinem Tun und Wesen besonders
auffallend, seine größere Wertschätzung des Geldes. Er be-
warb sich um die Stellung eines besoldeten Stadtrats, als der
älteste krcmke Stadtrat sein Amt niederlegen wollte, und zwar
mit etwas höherem Gehalt. Ferner bei abgelaufener Pacht-
zeit seiner kleinen Grundstücke verlangte er bei neuer Ver-
pachtung einen höheren Zins; er kündigte kleine Kapitale, um
sie gleichfalls niit höheren Zinsen wieder auszuleihen und zeich-
nete bei Sammlungen für wohltätige Zwecke eine geringere
Summe.

„Was ist mit unserm Stadtrat?" hieß es im Kreise der
Bekannten, „er wird geizig, früher so generös."

„Und dabei doch verschwenderisch!"

„Wie das? Wie reimt sich das zusammen?"

„Was tut cr dann?"

„Er läßt in seinem Hause alle Türen und Fensterrahmen
weiß lackieren."

„Neulich ging er in eine Tapetenhcmdlung."

„Das bedeutet also, er putzt sein altes Haus ein wenig
aus? "

„Nötig genug mäg es wohl sein, denn seit fünfzehn Jah-
rcn hausen die alten Geschwister darin, ohne einen Nagel ein-
geschlagcn zu haben."

„Verwunderlich ist's dennoch."

„Und er selbst modernisiert sich auch, läßt sich Haar und

Bart nach der ncuesten Mode stutzen, imd konferiert mit seine>ck
Schneidcr."

„Sie fragen noch", nähm einer das Wort, „was das be^
deutet? Das bedeutet: der- Junggeselle geht auf Freiers^
füßen!" .

„Machen Sie keine banalen Witze, unser alter Karl cn»
Freiersfüßen! Dafür wollte ich die Händ in's Fcuer legen."

Die Herren lachten gutmütig.

„Und sie verbrcnnen", war die Entgegnung.

„Jch habe ein Vögelchen singcn hörcn, und passen Sie ai>.!>
bald schreien's die Spatzen vom Dache, unser alter Freund he>^
ratet!"

„Nun denn, nur zu! Wir gratulieren."

Wie später der Stadtrat mit Gehalt die Gratulation aust
nahm, wissen wir schon. Auch wie die gute Schwester sich >"
ihr Schicksal —- Trennung vom Bruder — ergeben. Es H
übrigt von ihr nur noch zu sagen, daß sie kräftig und täH
war, wie immer, bei Verschönerungen im alten Hause half, um
Anfanzs April in den Weinberg hinauf zog. Dicsmal »>>
„Sack und Pack", urn nicht wieder ins Stadthaus zurückzu^
kommen, in welches eine andere Herrscherin einziehen sollte.

Ludmilla hatte inzwischen ihre Angelegenheiten geordnet'
die Auseinandersetzung mit dem Nachfolger ihres Man»e-'
hatte stattgehabt und sie rüstete sich zum Auszuge aus dc»
Pfarrhause.

Mancherlei Gegenstände, Mobilien und Geräte, waren de»
Verkauf ausgesetzt, die besten Sachsn reserviert.

(Fortsetzung solgt.)

— Stolz lieb' ich den Spanier. Ein spanisches Spr>^(
wort lautet: „Hätte Christus auf dem Berge über die Py»e)
näen hinübersehen können, er hätte dem Versucher nicht
derstanden." — Ein Betller, dem man sagte: „Schämt ihr ei>t»
nicht, zu betteln, da ihr arbeiten könnt!", erwiderte mit aus,,
castilianischen Würde: „Jch bat uin Geld und nicht um Rat'
 
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