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Heidelberger Familienblätter — 1876

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No. 26 - No. 34 (1. April - 29. April)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43705#0133
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Heidelberger Lamilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

32. Samſtag,

den 22. April

1876.

Bie Gruft von Steffendorf.
Novelle von H. Fallung.
(Fortſetzung.)

Als der Krieg im Jahre 1870 ausbrach, trat für
Marcilly eine bewegte Zeit ein. Die drei älteſten Söhne
mußten ins Feld ziehen. Céline, welche um die Land-

arbeiten auf dem Gute ſich nie gekümmert hatte, wurde

jetzt genöthigt, ſo ſehr ſie ſich ſträubte und mit vorge-
ſchobener kleiner Unterlippe ſchmälte, ſelbſt Hand anzu-
legen und bei dem Verkauf der Hühner, der Eier und
der Milch mit thätig zu ſein. Ein durchmarſchirendes
Linienregiment wurde auf mehrere Tage in Mareilly
einquartirt. Ta gab es viele Arbeit in der Küche und
im Keller, aber auch viel Luſt, Scherz und Siegesgewiß-
heit. Die Soldaten erzählten von dem „Spaziergange
nach Berlin“ und verſprachen, den alten Marquis von
Brandenburg auf der Rückreiſe auch in Marcilly ſehen
zu laſſen. Vor der Hand begnügten ſie ſich mit der
fröhlichen und weniger gefährlichen Eroberung der Herzen
der anmuthigen jungen Damen von Mareilly.
Auch Céline's kleine Herzensfeſtung, die bis dahin
ſich als ſturmfrei erwieſen, mußte ſich eine mehrtägige
Belagerung gefallen laſſen. Cöéline vertheidigte ſie tapfer
und ſchlug alle maariff ab. Aber der Belagerer war
ein bildſchöner junger Lieutenant, mit dunklen Augen,

kleinem Schnurrbärtchen und ſpitzem Knebelbart, welche

männliche Zier zu dem braunen ſcharfgeſchnittenen Geſicht
ganz vortrefflich ſtand, übrigens nicht minder noch Kind
wie auch Céline. Aus dem jungen Mann, der ſeinen
ſchweren Schleppſäbel kaum tragen konnte, der aber ſein
rothes, goldgeſticktes Käppi keck auf den ſchwarzen Locken
trug, mußte nach ſeiner und Célinens Ueberzeugung
jedenfalls in wenigen Jahren ein General werden; mög-
lich, daß er ſpäter auch einmal nach mehreren glücklichen
Schlachten gegen die Pruſſiens den franzöſiſchen Kaiſer-
thron einnahm.
Wie golden winkte dieſe Zukunft, wie ſchön und
klangvoll wußten die kirſchrothen Lippen Alfred's von
Noirmont zu ſingen, zu plaudern, zu koſen. Wie ſicher
fühlte man ſich unter dem Schutze ſolches Helden? Wie
ſchaal und langweilig war dagegen das Leben auf dem
Gute zu Marcilly, wie grämlich und mißgelaunt der
Vater Sulpice, wie abgünſtig und neidiſch die vier zurück-
gebliebenen Geſchwiſter!
„Gewiß, es war nicht länger zu ertragen, die Lange-
weile hatte Céline getödtet. Als das ſchmucke Linien-
regiment mit: Partant pour la Syrie abgezogen war,
mit ihm nach zärtlichem Abſchied von Mareilly auch
Alfred von Noirmont, vermißte man in der Familie
Poirot die kleine Celine. ö
Es wurde Alles durchſucht, Küche, Keller, Speiſe-
kammer, ſogar der hinter dem Garten befindliche Teich,
in welchem Céline vielleicht verunglückt ſein konnte. Allein
dieſe Nachforſchungen blieben ohne Ergebniß.
Einige Tage nach dem Abmarſch des Linienregiments

hielt ein Sergeant deſſelben vor der Thür des Pachthofes
mit einem kleinen Wagen ſtill. Er war von dem Re-
giment nach der nächſten rückwärts gelegenen Etappe zu-

ärückgeſandt, um dort zurückgebliebene Montirungsſtücke

— das Regiment war in überſtürzender Eile auf den
Kriegsfuß geſtellt und ausmarſchirt — nachzuholen. Er
fragte nach dem Vater Poirot und übergab dem an der

Pforte erſchienenen Alten ein zierliches Briefchen mit der

Erklärung, daß er in drei Tagen wieder durch Marcilly
kommen und die Antwort abholen werde. Sulpice Poirot
nahm den Brief mit zitternden Händen.
Er war von Céline geſchrieben.
Als Sulpice die Aufſchrift ſah, wurde es ihm ſchwarz
vor den Augen. Er taumelte zurück auf den Steinfitz,
der in dem runden Thorpfeiler der Einfahrt eingemauert
war. Der Sergeant aber ſchnalzte mit der Zunge, und
ſein leichtes Gefährt ſauſte, Staubwolken aufwirbelnd,
auf der weißen, von Kalkſteinen hergeſtellten Landſtraße
weiter. ö
Als Sulpice Poirot den Brief haſtig erbrach und
durchflog, traten die vier noch auf dem Pachtgute zurück-
gebliebenen Geſchwiſter Célinens unter die Thorfahrt an
den Vater heran. Das Geſicht des Letzteren wurde kirſch-
braun vor Aerger. Eine Fluth von Zornesworten
ſtrömte über ſeine Lippen, grollend, verzweiflungsvoll
untermiſcht mit hellem bittern Lachen. Er ſprang auf,
zerknitterte den Brief, zerriß ihn, zerſtampfte die Reſte
mit den Füßen: „Sie iſt eine Landſtreicherin, ſie iſt eine
Entehrte, ſie ſchändet den Namen der Familie Poirot.
Dafür trifft ſie mein Fluch! Rechne nur Niemand auf
Dankbarkeit. Verworfene, herzloſe und ſelbſtſüchtige
Nattern zieht man mit aller Liebe und Güte groß. Ich
löſe jedes Band zu ihr. Fluch und abermals Fluch ihr!
C'est fini!“
Dieſe lebhafte Erregung hatte die Kräfte des kleinen
hagern alten Mannes erſchöpft. — Er ſank abermals
zitternd auf den Steinſitz zuruüͤck und wurde dann von
ſelein Kindern ſorgſam über den Hof in die Wohnſtube
geleitet.
„Wir wußten es lange ſchon,“ ſagte Leon, der
jüngſte Sohn, „daß Cöéline ihr Herz an den Lieutenant
von Noirmond weggeworfen hat. Gewiß! — ſie iſt mit
ihm entflohen, die Undankbare, die Schändliche!“

* **
L

Als der Sergeant in den nächſtfolgenden Tagen das
Gut abermals, auf dem Rückwege zu ſeinem Regimente,
paſſirte, war das ganze Pachtgut öde und ſtill. Leon
trat blaß und niedergeſchlagen aus der Pforte.
„Nun gut, der Brief?“ fragte der Soldat.
Leon machte eine ſtumme und abwehrende Bewegung.
Ein Thränenſtrom ſtürzte aus ſeinen Augen.
„Vater Sulpice“, ſagte er, nachdem er ſeine Faſſung
wieder gewonnen, „kann nicht mehr ſchreiben. Die jähe
Schreckensnachricht hat ihn nach wenigen Stunden ge-
tödtet. Mein Sergeant, ſagen Sie der ungehorſamen
Tochter, daß ſie ihrem Vater das Herz gebrochen. Aber
 
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