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Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 3820,266
Lask, Berta
(Heid. Hs. 3820,266): Biographische Skizzen über Emil Lask — o.O., 1923 Januar

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https://doi.org/10.11588/diglit.26716#0001
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Lage das Lebenswerk meines Bruders vollendet vor, so ware eine Biographie
überflüssig, da es aber meinem Bruder nicht vergönnt war, alles Persön-
liche in Sachlichem auszuwirken, kann die Darstellung des Persönlichen
vielleicht dazu beitragen, Aufsehlüsse über seine unvollendet gebliebene
Denkarbeit zu geben, Werden treibende Kräfte und innere Struktur des
Menschen gezeigt, so kann die innere Struktur und gerichtetheit des
Werks dadurch erhellt werden,


Nicht um das Festhalten eines einzelnen Lebens Um seiner Einzelheit
willen geht es hier, auch nicht um seinen Platz in der philosophischen
Wissenschafti den zu bestimmen bin ich weder fähig noch berufen. Doch
vielleicht kann ein Laie im ergriffenen Sehauen des wahren Gesichts eines
geliebten Toten, im ergriffenen Miterleben gewaltiger Erschütterungen
der Welt, in die er gebannt war, auf manche Stllen einer vielfach ver-
deckten und vorzeitig abgerissenen Lebenslinie deuten, die der wissen-
scheftliche Philosoph weniger beachtet.und kann stb an dem Bild der We-
sensgestalt mitwirken. '

Emil lask wurde 1875 in dea kleinen Städtehen Wadowice in Galizlen
geboren. Seine Eltern waren deutsche Juden aus der Provinz Posen und in
Norddeutschland aufgewachsen. Die Mutter von lebhaftem Temperament und
lebhafter Phantasie, hatte in Berlin und Wien als Erzieherinfcewirkt, aber
noch in Jungen Jahren geheiratet. Der Vater schwer, ernst/verschlossen,
norddeutsch, herb, sarkastisch und scharf und doch gütig und humorvoll
von altjüdisch- puritanischer Strenge. Beide^ Eltern waren vcn liberalen
Ideen mit einem leicht konservativ-patriarchalischen Einschlag erfüllt
und von den rationalistischen Gedankengangen des achtzehnten Jahrhunderts
beherrseht. Doch zeigte der Rationalismus, besonders beim Vater, eine
religiöse Färbung und äusserte sieh positiv als Durchdringung des ganzen
Lebens mit Klarheit und Gerechtigkeit. Der Vater leitete eine kleine Ba-
pierfabrik, und sein Berufsleben war von demselben lauteren und kämpferi-
schen Geist erfülit wie sein PriVatleben.

Neben dieser geschlossenen Welt stand die ganz andersartige der
galizischen Landschaft am Fusse der hohen Tatra, geheimnisvoll belebt
durch die fernen ärmlichen Gestalten der polnimhhen Bauern und die eben-
so fernen und geheimnisvollen Symbole eines prlmitiven kirchlichen Lebens
Die Weite und Grösse einer reiehen Landschaft mit üppigen Wiesen, strah-
lenden Weizenfeldern, dunklem Gebirge gestalten die Seele, und das Fehlen
aller Zivilisaticnserscheinungen in einer Gegend polniseher Armut be-
’Ai RÜnstigt träumerische Versunkenheit und innere Konzentration. Der Menseh
^ \Ist allein mit der _Hat»- -■**•* ' .■ & _

nTsvoTTen UniversuttVÄö»

in solcher tiefen Stille und £tnsamkeit verbrachte Emil Lask seine
Kindheit, erst als einziges Kind, dann mit zwei jüngeren Schwestern,durch
eine fremde Spraehe vcn der pclnisch redenden Bevölkerur.g getrennt.

Als mein Bruder im elften Jahre stand, erwarb der Vater, um den
Kindern eine deutsche Erziehung zu geben, eine kleine, einsam gelegene
Fabrik auf dem Lande in der Mark Brandenburg, und die Familie siedelte
dorthin über. Die Landsehaft war karg und herb. Mein Bruder besuchte vcn
nun an das Gymnasium in der kleinen benachbarten Stadt. Zum erstanmal
brach die Aussenwelt in sein Leben ein, kleinlich und brutal, und dceh
als etwas überwältigend Neues und Forderndes.

Sein Wesen veranderte sich. In den nächsten Jahren sah ich den ehr-
fürchtig geliebten grossen Bruder schaudernd in eine schreckliche Fremde
entgleiten. Fremdartige Dinge wie Mathematikarbeiten und lateinisehe
Uebersetzungen füllten gross und drohend seine Tage; Geschichtszahlen
und Vokabeln hingen wie eiserne Gewichte an ihm. Die Schulbücher schienen
 
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