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Karl W. Hiersemann (Firma); Karl W. Hiersemann
Katalog (Nr. 330): Manuscripte des Mittelalters und späterer Zeit: Einzel-Miniaturen, Reproduktionen — Leipzig: Karl W. Hiersemann, 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.68377#0198
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Musik-Manuscripte. XIV.—XIX. Jahrh.

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Die Handschrift ist keine Prachthandschrift, d. h. sie ist nicht auf
reichen Schmuck durch Initialen angelegt, sondern für den praktischen
Gebrauch berechnet gewesen und beschränkt sich im allgemeinen auf
die Hervorhebung der einzelnen Abschnitte durch herausgerückte größere
rote Buchstaben der seit dem IX. Jahrh. gebräuchlichen gefälligen Form, rote
Überschriften und gelegentliches Rot-Antupfen der Anfangsbuchstaben der
einzelnen Sätze längerer Textteile. Auch grüne Farbe ist streckenweise
kunstlos angewendet worden zur inneren Füllung roter Buchstaben, be-
sonders in der zweiten Hälfte der Handschrift. Daß die Arbeit des Illu-
minators eine nachträgliche war, beweist die Handschrift deutlich durch
gelegentliches gänzliches Fehlen der Rubra (so S. 414—420). Daß der
Textschreiber im allgemeinen auch die Neumen nicht sogleich einzutragen
hatte, dafür vielmehr ein speziell geschulter besonderer Schreiber heran-
gezogen wurde, belegen S. 440—468 der Handschrift, wo sämtliche Neumen
fehlen (1. Woche nach Ostern); ebenso ist auf einigen anderen Seiten
deutlich erkennbar, daß die Neumen mit anderer Tinte nachgetragen sind.
Von S. 384 ab wechseln Stellen mit alter, nachgetragener und aufgefrischter
Neumierung; doch sind in den letzten Lagen wieder alle Neumen alt.
Einige wenige kunstvollere Initialen sind geeignet, das Alter der
Handschrift zu bestätigen; ein phantastisches P auf S. 3, ein Insekt (Libelle),
das einen Hund füttert, weist wohl auf irische Einflüsse, das O S. 74.
P S. 105 und E S. 422 entsprechen der Blätter- und Bandornamentik
deutschen Geschmackes im X. Jahrhundert und S. 147 bringt sogar ein S
M und ein zweites S rot auf Goldgrund mit Blätterschmuck in mehreren
Farben als eine förmliche Randleiste übereinander. Diese wenigen Initialen
sind aber sozusagen nur Proben des Stils der Zeit der Herstellung der
Handschrift und stellen nicht einen planmäßig durchgeführten Schmuck dar.
Die Neumen sind durch die ganze Handschrift mit großer Sorgfalt
eingetragen und zwar mit der wohlerkennbaren Absicht, die relative Ton-
höhe zu markieren. Die Melodien der Officiumsgesänge sind ja im all-
gemeinen viel einfacher angelegt, als z. B. die Gradual- und Halleluja-
gesänge der Messen; es entsteht daher bei ihrer Notierung nicht die Gefahr
mit dem vorgesehenen Raume nicht auszureichen, wie solches in älteren
St. Gallener Antiphonarien vielfach zur Unkenntlichmachung der relativen
Tonhöhenlagen durch Drängung der Zeichen geführt hat. Wo in den
kleinen Responsorien unserer Handschrift längere Melismen über einer Silbe
auftauchen, hat aber der Schreiber gleich durch größere Lücken im Text
vorgesorgt, daß die ganze Neumierung bequem untergebracht wurde, viel-
fach so genau, daß man zweifeln muß, ob er nicht doch selbst wenigstens
teilweise sogleich die Neumen eingetragen hat. Trotz dieser Verdeutlichung
der relativen Tonlage sind die Neumierungen der Handschrift aber nicht
der Kategorie der Neumes ä points superposes zuzuweisen, welche um
die Zeit der Reform Guidos zu Anfang des XI. Jahrhunderts häufig werden,
da eine Tendenz zur Auflösung der Ligaturen in Einzelpunkte nicht erkennbar
ist. Vielmehr sind auch die drei- und viertönigen Neumen (Torculus,
Porrectus, Torculus resupinus, Porroctus flexus etc.) konserviert und der
Scandicus tritt sogar auffallend häufig als Ligatur anstatt als Konjunktur auf.
Die Formen der Neumen sind durchaus die feinen zierlichen der St. Galle-
Karl W. Hiersemann in Leipzig» Königsstrasse 3* Katalog 330.
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