Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0262
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
242

Verbreitung und Formen der Tronie

1684) abgesehen von Porträts vornehmlich auf Dar-
stellungen des häuslich-bürgerlichen Lebens spezia-
lisierten.
Für den Rückgang der Beschäftigung mit Tronien
ist allerdings sicher nicht allein die Verschiebung in
den Mengenverhältnissen der im 17. Jahrhundert
hergestellten Gemälde unterschiedlicher Gattungen
verantwortlich - diese dürfte allenfalls eine Tendenz
verstärkt haben, die noch mit anderen Ursachen zu-
sammenhängt. Denn obwohl die Produktion von
Historien insgesamt abnahm, beschäftigten sich auch
im letzten Drittel des Jahrhunderts noch eine Reihe
gefragter Künstler, wie z.B. Gerard de Lairesse (1641—
1711), Godfried Schalcken (1643-1706), Adriaen van
der Werff (1659-1722) und Willem van Mieris (1662—
1747), mit dieser Gattung.85 Mit Ausnahme einiger
Fälle, in denen Meister wie Aert de Gelder dem Vor-
bild Rembrandts und seines Kreises folgten, gehörten
Tronien jedoch nicht oder zumindest nicht in nen-
nenswertem Umfang zu ihren Betätigungsfeldern. Ein
Grund hierfür kann gewesen sein, dass theoretischer
Anspruch und künstlerisches Erscheinungsbild der
Historien-, aber auch der Genremalerei in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts vielfach klassizistischen
Grundsätzen folgte, die eine starke, an antiken Vor-
bildern ausgerichtete Idealisierung der Figuren bein-
halteten.86 Letztere wird in den Historien de Lairesses
und van der Werffs besonders anschaulich.87
Prinzipiell ist eine idealisierende Darstellungswei-
se im Sinne klassisch-antiker Normen mit der Bild-
aufgabe Tronie nicht oder nur bedingt vereinbar, da
ein wesentliches Charakteristikum der Werke in der
veristischen Wiedergabe lebender Modelle besteht.88
Die Historien von Malern wie de Lairesse und van
85 Zum Werk de Lairesses vgl. Roy 1992; zu van der Werff:
Gaehtgens 1987; Kat. Amsterdam 1989/90, Kat. Nr. 55-
62, S. 248-279; zu Schalcken: Beherman 1988; Kat. Amster-
dam 1989/90, Kat. Nr. 37-45, S. 182-216; zu Willem van Mieris:
Kat. Leiden 1988, S. 152-168; Kat. Amsterdam 1989/90, Kat.
Nr. 19-24, S. 104-128; E.J. Sluijter in DA 1996, ßd. 21, S. 488f.
86 Zur klassizistischen Kunstauffassung der zweiten Jahrhun-
derthälfte vgl. u.a. Slive 1953, S. 83—103; Emmens 1968, bes.
S. 54-95, 105-144; Kemmer 1998; Vries 1998, S. 71-132.
87 Für die Historien de Lairesses vgl. Roy 1992, S. 187-363. Für
die Historien van der Werffs vgl. Gaehtgens 1987, Kat. Nr.
59-104.
88 Zwar zielen z.B. Godfried Schalckens weibliche Halbfiguren,
denen als einziges Attribut eine Kerze beigegeben ist, auf ei¬
nen speziellen, durch die künstliche Beleuchtung evozierten
ästhetischen Effekt ab, sie sind jedoch meist so stark typi¬
siert, dass ihre Einschätzung als Tronien diskutabel ist. Vgl.

der Werff waren somit kaum als Bezugspunkt für die
Anfertigung von Tronien geeignet, wie dies für die
Maler älterer Generationen beobachtet werden konn-
te. Es lag nicht im Interesse der jüngeren Meister, z. B.
ein altes, verrunzeltes Gesicht möglichst naturge-
treu wiederzugeben. Vertreter einer klassizistischen
Kunstanschauung wie de Lairesse und Jan de Bis-
schop wenden sich dezidiert gegen die Auffassung,
dass das Unharmonische, Hässliche, Missgestaltete
oder Alte als darstellungswürdig betrachtet werden
dürfe.89 Vielmehr ist es ihrer Ansicht nach Aufgabe
des Künstlers, ideale Schönheit zu vergegenwärtigen,
indem er einerseits den Meistern der Antike bzw. der
italienischen Renaissance folgt und andererseits nur
die schönsten Aspekte des Naturvorbildes zum Bild-
gegenstand wählt. Eine Passage in Jan de Bisschops
Paradigmata graphices variorum artificium (ca. 1671)
zeigt, dass diese Forderung auch für die Darstellung
des menschlichen Gesichts erhoben werden konnte:
»Want het is claerlijck een verkeertheyt van oordeel te gelooven
dat ‘t geen in ‘t leven voor ‘t gesicht is afsienelijek, inde konst en
uytgebeeld sij goed en behagelijek, en dat meer schilderachtich
sij en voor de konst verkieselijek een mismaeckt, out verrimpelt
mensch, als een welgemaeckt, fris en jeugdigh.«90
Interessanterweise lässt sich selbst innerhalb des CEuv-
res eines so produktiven Troniemalers wie Govaert
Flinck ein entsprechender geschmacklicher Wandel in
der Auffassung seiner Einfigurenbilder konstatieren:
Malte Flinck noch bis um 1650 realistisch geschilderte
Tronien charaktervoller Greise, so wird seine Produk-
tion von Einfigurenbildern in den fünfziger Jahren
von Frauengestalten dominiert, die der Bildaufgabe
Tronie aufgrund ihrer idealisierten Gestaltungsweise
kaum zugerechnet werden können.91
z.B. Beherman 1988, Kat. Nr. 192, S. 286f., Kat. Nr. 196,
S. 289f. Zu Schalckens künstlerischer Spezialität des Nacht-
stücks mit Kunstlicht vgl. Neumeister 2003, S. 339-357.
Zweifelsfrei als Tronie anzusehen ist dagegen das Schalcken
zugeschriebene Brustbild einer alten Frau (Leinwand, 43 x
34 cm, bez.: G. Schalcken, unbekannter Besitz, Beherman
1988, Kat. Nr. 278, S. 340), das eine Greisin mit nahezu voll-
ständig verschattetem Gesicht in Phantasietracht zeigt. Vgl.
auch den Kopf eines alten Mannes, Holz, 40 x 30,5 cm, bez.:
G. Schalcken, unbekannter Besitz (Versteigerung London,
Christie’s, 8.12.1995, Nr. 284), Foto RKD, Den Haag.
89 Vgl. Emmens 1968, S. 59-62, 124-128; Vries 1991, S. 223f.;
Bakker 1995, S. 156-162; Vries 1998, S. 79f., 106-108.
90 Bisschop o. J. [1671], o. S. (Widmung an Jan Six).
91 Vgl. z.B. Sumowski 1983-1994, Bd. 2, Kat. Nr. 652-654. Zum
flämischen Einfluss auf Flincks Schaffen in dieser Zeit vgl.
Moltke 1965, S. 27-38.
 
Annotationen