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Hübsch, Heinrich
Die altchristlichen Kirchen nach den Baudenkmalen und älteren Beschreibungen und der Einfluss des altchristlichen Baustyls auf den Kirchenbau aller späteren Perioden: Text zu dem 63 Platten enthaltenden Atlas — Karlsruhe, 1862

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https://doi.org/10.11588/diglit.3196#0006
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III

Zweifellos muss aber die architectonische Schönheit, wenn sie über dem blos sinnlich Ange-
nehmen stehen soll, auch einen Inhalt haben. Wie könnte nun ein solcher in den eben er-
wähnten , über die Grosformen des Baues hinspielenden architectonischen Verzierungen
und in den kleinen Ziergliedchen gefunden werden ?')

Zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts, wo man an eine sogenannte selbstständige
für alle Zeiten gleichgestaltige und namentlich vom Christenthum gänzlich unabhängige
Schönheit glaubte, suchte man das Geheimniss derselben in einer einfachen klaren
Regelmäßigkeit der Umriss-Linien. Und man nahm als höchste Potenzen die Wellenlinie
und die Spirallinie an2).

Ferner sollte die Schönheit, angeblich wie in der Musik, hauptsächlich in den einfachen
und reinen Proportionen bestehen, die dadurch gefielen, dass sie sich in ganz einfachen
Zahlen ausdrücken Hessen.

Es kann unmöglich in solchen Eigenschaften, die erstlich blos eine äuserliche Regel-
mäsigkeit für das Auge gewähren, und zweitens gänzlich die besondere Bestimmung des
Gebäudes ignoriren, der Schwerpunkt seiner Schönheit enthalten sein, da dieselbe erst-
lich nicht allein ein sinnliches Gefallen erregt, sondern auch das Herz des Menschen
ergreift und ihn geistig beschäftigt, und da es zweitens verschiedene Arten von Schönheit
gibt, indem z. B. die Schönheit einer Kirche eine besondere und charakteristisch andere
ist, als diejenige eines Palastes.

Manche träumen als Neupythagoräer von einer hypermystischen und in der Archi-
tectur ausdrUckbaren Repräsentation oder Symbolisirung der höchsten spiritualen Dinge
und Dogmen durch ganz einfache Cardinalzahlen und einfache geometrische Figuren,
als durch das Quadrat, den Kreis, das Dreieck. Nun ist wohl die Gesammtgestalt des
Grundplans eines jeden Baues allerdings aus einfachen — meist rechteckigen ■—■ Figuren,
was theils die passende Aneinanderreihung der Räume, theils die Oekonomie und Statik
der Construction fordert, zusammengesetzt; aber dabei ist sie so vielfach durch stellenweise
Vorsprünge der Umfassungs-Mauern, namentlich bei gewölbten Räumen unterbrochen,
dass jene gewünschte mathematische Einfachkeit und reine Commensurabilität gleichsam
im Geheimen vorhanden sein würde, und also von unsichtbarer ästhetischer Wirkung
sein müsste4).

Eine eigene Art von Gedankenlosigkeit ist es, wenn man nach der schon oben er-
wähnten Theorie Vi.truvs die ästhetische Gestaltung der architectonischen Elemente, statt
aus ihrer gegenwärtigen monumentalen Construction, aus einer längst verlassenen unbe-
deutenden Urconstruction in Holz ableiten will. Wie kann man doch, nachdem man die
gegenwärtige Stein-Construction als etwas Prosaisches degradirt hat, eine längst verlassene
Holzconstruction als eine ästhetische Grundlage ansehen! So sehr nun aber auch der
gegenwärtigen monumentalen Construction nach den obigen Erklärungen in hohem Maase
ästhetische Eigenschaften zuerkannt werden müssen, so wird man sich dennoch vergebens
bemühen, aus ihren Anforderungen ein masgebendes Normativ für alle architectonischen
Formationen bis zur feineren Gliederung und Verzierung abzuleiten. Die Zierlichkeit
und die Decorationen empfangen ihre Gestaltung selbst nicht in entferntester Weise durch
die räumliche Bestimmung und die monumentale Construction des Baues. Man wird
sich vergebens abmühen, selbst wenn man sich mit sophistischen Gründen und mit den
gezwungensten Analogien begnügt, die Detail-Bildung der Gesimse, oder gar die kleinen
Profile eines griechischen Karnieses, eines Rundstabs etc. — die oft kaum Vio so gros
sind , als die dünnste Steinschichte am Bau — aus der wirklichen Construction
abzuleiten.

Aber demnach —■ wird man endlich fragen — gibt es also gar kein universelles
Princip der Schönheit? —

Es ist wenigstens aus den bisherigen Betrachtungen so viel zu entnehmen, dass bei
der architectonischen Schönheit mehrere Factoren wirken. Kann sie aber ein bloss
beliebiges Aggregat von mancherlei ästhetischen Eigenschaften sein? — Gewiss nicht.
Wir haben also nach einem inneren nothwendigen Vereinigungspunkte, nach einem ästhe-
tischen Hauptprincipe zu suchen. Und dazu führt uns die wohl von Niemanden zu

*) Wir sehen ja, wie in jeder Kunstperiode dieselben ganz gleich gestaltet — z. B. in der griechischen
der Mäander, der Perlenstab, mit den sogenannten Schlangeneiern, das Wasserlaub, der überhängende
Karnies u. s. w. — sowohl an allen Bauwerken von ganz verschiedener Bestimmung als auch an kleinen
Geräthschaften, Sesseln, Vasen etc. sich wiederholen. Also kann doch die Hauptbasis der Schönheit eines
Baues nicht allein auf diesen kleinen Detailformen beruhen. Wollte man aber etwa die ganzen Gesimse,
woran sich diese Details befinden, ebenfalls noch zu dem Bereiche des Decorativen rechnen, so weiss
denn doch jeder in seiner Technik erfahrene Architect, dass ihr Dasein , ihre Stellung und ihre Kern-
form mit mehr oder weniger strenger Nothwendigkeit aus der Construction hervorgehen, und nur zum
kleinsten Theil der Willhühr einer äusserlichen Verschönerungs-Lust freigegeben sind.

2) Der erste Blick konnte aber belehren , dass gerade bei den höheren Gebilden der Schöpfung die Um-
risse weniger eine einfache geometrische Regelmäsigkeit zeigen, als bei den niedrigeren. Es hätte
nach dieser Theorie nicht der menschlichen Gestalt, sondern den Conchylien die höchste Schönheit
zuerkannt werden müssen. Und überdies kommen ja an Bauten Spirallinien nur als kleine Details vor.

3) Dies findet aber nicht einmal bei allen musikalischen Intervallen der diatonischen Tonleiter statt. Auch
könnte nach dieser Theorie die menschliche Gestalt nicht sehr schön sein, weil deren Glieder keines-
wegs zu einander in einfachen commensurabeln Verhältnissen stehen. Oder möchte man etwa die
Gestalt eines erwachsenen Menschen, deren Rumpf 62/3 mal so hoch wäre, als der Kopf, darum für
weniger schön halten, als eine andere, woran der Rumpf ganz genau 6 oder gar nur 5mal so hoch
wäre, als der Kopf — was im gewöhnlichen Leben ein Zwerg genannt wird ? Und es müsste das
Mittelschiff einer Kirche, dessen Höhe bis zum Scheitel des Gewölbes oder bis zum Anfang desselben
genau ebensoviel betrüge, als dessen Breite, an Schönheit verlieren, wenn es aus diesem einfachen
reinen Hauptverhältnisse käme und etwa 1 */, oder gar 13/4mal so hoch als breit würde ? Nun wird
aber im Gegentheil der Raum durch diese Erhöhung in den Augen eines jeden Kenners aus einem
hässlieh gedrückten Verhältnisse heraus und einem schöneren edleren Verhältnisse näher gebracht.
Uebrigens erregen solche vermeintliche Bestimmungen schon darum Lächeln bei dem Fachmann, weil
er weiss, dass mit Leichtigkeit an einem und demselben Baue ganz verschiedene Zahlenverhätnisse
herausgemessen werden können, je nachdem man da oder dort zuerst den Masstab ansetzt.

4) In diese Categorie gehört übrigens keineswegs die Anlage der Kirchen nach der Kreuzform, welche in
den meisten Fällen sehr augenfällig sowohl im Innern als am Aeussern sich kund gibt. Was nun gar
die Annahme obiger Figuren bei der Gestaltung des Höhenprofils der Gebäude betrifft, so muss das
letztere vor allem solche Umrisse erhalten, dass der Bau nicht einstürzt: daher haben wohl die Archi-
tecten aller Zeiten dieses Profil streng nach den Bedingungen der Construction, also nach den Linien
der angewandten Statik zu gestalten gesucht, und sich dabei vor beliebig von Mystikern ihnen actroirten
rein geometrischen Figuren gehütet. Es meint zwar der hypermystische Blick das Dreieck in dem
gothischen Spitzbogen ■— der darum die Trinität repräsentiren, oder irgend eine Transscendenz aus-
drücken soll — zu sehen; allein der gesunde Blick sieht das Dreieck etwa in einem Giebelfclde , aber
keineswegs an einem gothischen Gewölbebogen, woran ja nur eine Spitze erscheint, während die
Basis-Linie des Dreiecks gar nicht vorhanden ist, und während die beiden ansteigenden Schenkel keine
geraden Linien , sondern — damit das Gewölbe nicht in sich selbst einstürze — auswärts gebogene
Linien bilden.

IV

bezweifelnde Thatsache: dass jedes bedeutende Bauwerk, so wie überhaupt jedes andere
Kunstwerk nicht blos das Auge oder das Ohr des Menschen ergötzt, sondern zugleich
auch seinen Geist in Anspruch nimmt. Dies führt aber folgerichtig zu dem — meines
Wissens noch von keinem Aesthetiker gezogenen — Schlüsse: dass ebenso, wie der
Mensch eine organische Vereinigung von Leib und Seele ist, wie er zwei Naturen hat,
auch bei der vollkommenen Schönheit ein gleicher Dualismus herrscht. Sprechen wir
es daher geradezu als oberstes ästhetisches Princip, und zwar nicht allein für die Archi-
tectur, sondern für alle schönen Künste aus, dass die vollkommene Schönheit eine innige
Verschmelzung zweier Pole ist, welche in ihren extremsten Eigenschaften einander
gerade entgegengesetzt sind, und hierin — wenn wir in der Ausdrucksweise der neueren
Philosophen sprechen wollen — ihr diabetisches Leben haben. Es muss hiernach das
Kunstwerk sowohl einen geistigen Inhalt characteristisch aussprechen, als auch denselben
in sinngefälliger Weise vortragen oder darstellen. Eine geistig characteristische Auffassung
und zugleich aller Sinnen-Gefälligkeit ermangelnde Darstellung würde Gefühle erregen,
die sich eigentlich nicht von den moralischen Gefühlen des Herzens (der sogenannten
schönen Seele) unterschieden. Und ebenso stände ein blos sinngefälliges mit gar keinem
geistigen Inhalte zusammenhängendes Formenspiel, das instinetartig gefällt, nicht viel höher,
als das bloss Angenehme für Ohr und Auge. Ein solches ästhetisches Gefühl würde sich
aber nicht wesentlich von den grobsinnlichen Gefühlen unterscheiden. Die volle Schönheit
lebt also in einer glücklichen Verschmelzung beider Sphären. Die Kunst ist sowohl für
den Geist und das Herz da, als auch für die Sinne, und zwar für das Auge und das Ohr,
die edelsten Sinne, die der Seele zunächst stehen, und am wenigsten egoistischer (interes-
sirter) Art sind.

Es müssen also zwei Pole oder Sphären der Schönheit angenommen werden: ein
geistiger oder vielmehr spiritualer, den wir den characteristisch-schönen Pol,
und ein sinnlicher, den wir den formal-schönen Pol, nennen wollen1).

Diese genannten beiden Schönheits-Pole treten denn auch dem aufmerksamen Blicke
in der Kunstgeschichte überall entgegen und sind so zu sagen, sehr deutlich auseinander
gelegt. Es war immer bei dem Erscheinen einer neuen Hauptrichtung die Aufmerk-
samkeit und Begeisterung zuerst fast ausschlieslich auf die characteristische Gestaltung
des Kunstwerks, als das Höhere gerichtet; und zuletzt bei dem Erkalten dieser Richtung
wurde fast nur noch die gefällige Ausbildung der Formen eultivirt, woran man sich aus-
schliesslich ergötzte. Die Blüthenperiode jeder Kunstrichtung liegt aber offenbar zwischen
diesen beiden Extremen. So werden wir von manchem altitalienischen oder manchem
altdeutschen Bilde durch den lebendigen spiritualen Ausdruck der abgebildeten Gestalten
o-erührt, erhoben und begeistert, also in hohem Grade ästhetisch afficirt, während doch
diese Gestalten in ihrer gar so kümmerlichen Gliederung und Muskulatur dem Auge noth-
wendig missfallen. Dagegen nimmt an mancher antiken Statue der gesunde thatkräftige
Körper, correct gezeichnet und gefällig dargestellt unwiderstehlich unser Wohlgefallen in
Anspruch; während wir dabei doch nur ein mehr sinnliches Leben ausgedrückt finden, und
während die Züge, welche ein ethisches Geistesleben bis auf einen uns interessirenden Grad
abbilden sollen, gleichsam noch schlafen, so dass nur der Platz dazu vorhanden ist, wie
etwa bei dem Angesichte eines Kindes. Die Alten selbst vermissten nichts, denn sie
konnten bei ihrer nicht hoch über das Irdische steigenden Religion und Lebensauffassung
die ethische Leere ihrer Physiognomien nicht fühlen, wie wir bei unserer Gemüthstiefe,
die erst eine Gabe des Christenthums ist. Das Vergessen dieses Unterschieds zwischen dem
damaligen und heutigen Standpunkt der Religion und des Lebens, und also auch zwischen
der damaligen und heutigen Kunstrichtung, hat die einseitige Ansicht erzeugt, als sollte —■
nach dem Vorgange der antiken Periode — die durch die Kunst zu schildernde Schönheit
nichts mit der spiritual-schönen, christlichen Gemüthswelt zu thun haben, und man nannte
darum nur die sinnlich gefällige und irdisch lebendige Seite der menschlichen Gestalt schön.

In der Architectur, als der äusserlichsten der Künste — welche, wie oben gesagt, nur
eine indirecte Beziehung zu dem innern Menschen hat — bewegen sich natürlich auch beide
Pole der Schönheit in einer tiefern Region, als in der Malerei und Sculptur. Hier besteht die
Sphäre des geistig interessanten Schönheitspols in der acht characteristischen Auffassung der
durch die Bestimmung des Baues geforderten Räume und in der entsprechenden Darstellung
derselben mittelst der monumentalen Construction, woraus sowohl die mehr speciell-characte-
ristische architectonische Anlage hervorgeht, als auch die mehr generell-charactenstische (haupt-
sächlich construetive) Anordnung, Gestaltung und Gliederung der zum Organismus eines voll-
ständigen Baues gehörigen Elemente. Aber die Sphäre des anderen sinngefälligen oder
formalen Schönheitspols besteht darin, dass neben dem Zwecke herspielend den Gros-
formen ein dem Auge schmeichelndes Ansehen von Leichtigkeit, Zierlichkeit und Weich-
heit gegeben wird durch fein profilirte Ziergliedchen, die die ersteren umrahmen und
theils geschmeidiger mit einander verbinden, theils deutlicher gegen einander bezeichnen,
und dass durch ausfüllende Verzierungen das Ganze eine reiche Vollendung erhält.

Hiernach darf wohl behauptet werden, dass in der characteristischen Auffassung oder
in der räumlichen Anordnung und monumentalen Darstellung des Baues der geistige Höhen-
punet des schaffenden Künstlers und der höhere ästhetische Eindruck für den Beschauer liege.
Die ächte Anordnung eines Kirchenbaues muss wahr und völlig den Begriff der christlichen
Kirche mit der besondern localen Aufgabe vermählen, so dass das Ganze und seine Theile eine
organische Einheit aussprechen, d. h. dass nicht allein der Hauptraum in seinen Dimensionen
und Verhältnissen sich edel und grosartig darstelle, sondern dass auch die zugehörigen Neben-
räume sowohl an sich vollständig, als auch zum Ganzen passend und unverkümmert sich
verhalten. Den verschiedenen oft complicirten Räumen und Gliedern eines grosen Baues
eine Ebenbürtigkeit unter sich zu geben und überall edle räumliche und statische Verhält-
nisse zu erreichen — dies gelingt nicht einer blos kalten Reflexion und äusserlichen Combina-
tionsgabe, sondern es erheischt einen Genius von wärmerer und höherer Natur, als das
freilich auch nicht zu verachtende feine Talent des Geschmacks ist, der die zweite formale,
hauptsächlich decorative Seite der Architectur umfasst.

■*) Dabei ist jedoch zu bemerken, dass der letztere nicht ganz dasselbe ist, was man gewöhnlich mit dem
Ausdruck „schöne Form" uneigentlich zu bezeichnen pflegt: denn die characteristische Schönheit giebt
sich ja — wenigstens in den bildenden Künsten — ebenfalls durch sinnlich wahrnehmbare Formen
kund, sonst könnte sie gar nicht erkannt werden. Und wenn man in der gefälligen formalen Seite
allein schon die Schönheit oder das Aesthetische als vollständig enthalten erklären wollte, während man
die characteristische Seite eines Kunstwerks nicht als zur Schönheit im eigentlichen Sinne des Worts
gehörend, sondern nur als den geistigen Inhalt oder den Gegenstand zur Schönheit hinzubringend an-
sehen wollte; so müsste man consequenter Weise die ganz einfache Musik, z. B. den cantus firrnus,
und ebenso die poetischen nicht metrischen Hymnen etc. als aller Schönheit noch gänzlich ermangelnd
erklären, was man denn doch nicht wohl wird behaupten wollen.
 
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