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Robert, Carl
Hallisches Winckelmannsprogramm (Band 16): Die Nekyia des Polygnot — Halle a. S., 1892

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https://doi.org/10.11588/diglit.6002#0036
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II. Die Reconstrnction.

wodurch an der rechten Seite die Composition beinahe giebelartig ansteigt, Fehler, die übrigens
auch den folgenden Reconstructionsversuchen in gleicher Weise anhaften.

Diesei\erste Eiepenhausensche Versuch bot Goethe Anlass zu einer Besprechung, die 1804
in der Jenaer Litteraturzeitung erschien.1) Zum ersten Male ist hier der Versuch gemacht, die
Frage nach dem Wesen der Polygnotischen Malerei wirklich zu erfassen, und keiner war auch
wie Goethe berufen, die Grösse des alten thasischen Meisters ahnend zu verstehen. Wir freuen
uns nicht bloss der mächtigen Förderung, die seine Darlegung einer wichtigen kunsthistorischen
Frage gebracht hat, wir freuen uns vor allem darüber, dass Goethe dem Würdigsten auch das
köstliche Stück antiker Schönheit, das das Schalten des Polygnot einschliesst, nicht verschlossen
geblieben ist. Goethe ist der erste, der das Problem wirklich vertieft und in den Geist der
Composition nachfühlend und nachdichtend einzudringen versucht. Die Figurenreihe der Beschreibung
wird harmonisch abgeteilt und das Einzelne zur allgemeinen Weihe geführt. Gruppen von Dichtern
und Gönnern, Lehrern und Schülern, Freundinnen und Nebenbuhlerinnen, ehrwürdiges Alter und
jung Verstorbene, unglückliche Gattinnen und glücklich Liebende, Besucher und Stürmer des Hades
findet sein Seherauge auf dem Bilde zusammen- und entgegengestellt, und der Dichter feiert des
Malers hohen poetischen Sinn, ,.der weit umfassend, tief eingreifend sich anmassungslos mit unschuldigem
Bewusstsein und heitrer naiver Bequemlichkeit darzustellen weiss-'. Er vermutet, dass die Vorzüge
Polygnotischer Malerei bestanden haben „in der Würde der Gestalt, der Mannigfaltigkeit des Charakters,
ja der Mienen, im Reichtum von Gedanken, Keuschheit in den Motiven und einer glücklichen Art,
das Ganze, das für die sinnliche Anschauung zu keiner Einheit gelangte, für den Verstand, für die
Empfindung durch eine geistreiche, fast dürfte man sagen witzige Zusammenstellung zu verbinden",
und er vergleicht Polygnot darin „mit den älteren Meistern der in unserem Mittelalter auflebenden Kunst,
besonders den Florentinischen". Zugleich aber dringt er darauf, dass man vor allem von den
technischen Errungenschaften der modernen Malerei abstrahieren müsse, wenn man eine richtige
Vorstellung von den Gemälden Polygnots erhalten wolle. „Von der Höhe, auf welche sich in der
neueren Zeit die Malerei geschwungen hat, wieder zurück auf ihre ersten Anfänge zu sehen, sich die
schätzbaren Eigenschaften der Stifter dieser Kunst zu vergegenwärtigen und die Meister solcher
Werke zu verehren, denen gewisse Darstellungsmittel unbekannt waren, welche doch unsern Schülern
schon geläufig sind, dazu gehört schon ein fester Vorsatz, eine ruhige Entäusserung und eine Einsicht
in den hohen Wert desjenigen Stils, den man mit Kecht den wesentlichen genannt hat, weil es ihm
mehr um das Wesen der Gegenstände, als um ihre Erscheinung zu thun ist". Am schwersten falle
es ja, sich vorzustellen, dass die Gruppen keineswegs perspectivisch, sondern neben, über und unter
einander gestellt gewesen seien, aber gerade dies müsse man durchaus im Auge behalten. Am
besten könne man sich diese Art darzustellen vergegenwärtigen, wenn man die Vasengemälde vor
sich nehme, und diesen, d. h. vorzugsweise den sog. apulischen, wie wir jetzt wissen, tarentinischen
Prachtgefässen entlehnt Goethe, ohne es direct auszusprechen, auch das Princip seiner eigenen
Eeconstructionsvorschläge. die sich über die Kiepenhausen hinausgehend auch auf die Nekyia
erstrecken, namentlich die Einteilung in drei Reihen, oder wie Goethe sagt, drei Stockwerke. Auch

4) Werke XLIV 97 ft'.
 
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