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Dr. Theodor Reik
Jünglings gelockerte Band zwischen Vater und Sohn inniger zu
knüpfen. Wir haben die zahlreichen Riten dargestellt, in welchen der
Jüngling vom Geiste oder vom Totem verschlungen und wieder^
geboren wird. Was soll nun diese absurde Vorgabe, der Novize
werde von einem — doch gewiß männlichen — Totem wiedergeboren,
bedeuten? Wir könnten diesen Zug als sinnlos außer acht lassen,
doch die Psychoanalyse lehrt uns, auch solchen anscheinend völlig
widersinnigen Gedanken Aufmerksamkeit zu schenken und Bedeutung
zuzuschreiben.
Überwinden wir alle logischen Bedenken für einen Augenblick
und stellen wir uns auf den Boden der primitiven Anschauungswelt.
Wenn der Jüngling also nicht von seiner Mutter, sondern vom
Totem oder von seinem Vater geboren würde, welche Folgen hätte
diese so unnatürliche Geburt? Wir erinnern uns, daß die Wieder*»
gebürt in den Pubertätsriten mit der Ablösung der Novizen von
ihrer Mutter, also mit der Inzestverhinderung in Zusammenhang
steht. Diese Wiedergeburt hat also einen negativen Charakter. Sollte
sich nicht die sonderbare Praktik des Geborenwerdens durch den
Totem durch diese unsere Erkenntnis erklären lassen?
Die Männer der Primitiven benehmen sich so, als wäre die
Geburt des Knaben durch seine Mutter die Ursache der erotischen
Anziehung zwischen der Frau und ihrem Sohne. In dieser naiven
Ansicht steckt ja wirklich ein richtiger Kern,- hätte ein anderes Wesen
den Jungen geboren, so würde seine erste heftige Neigung nicht
dieser Frau gelten. Wenn man den geschlechtsreifen Jüngling aus
der inzestuösen Libidofixierung lösen will, so muß man folgerichtig
die Grundursache des Inzestbegehrens beseitigen: der Junge muß
wiedergeboren werden. Dieser radikale Versuch der Rückgängig*»
machung einer Tatsache erwächst aus der Furcht der Männer, die
unbewußten Inzestgelüste ihrer Frauen und Söhne könnten realisiert
werden. Daß der Geist oder der Totem die Jungen wiedergebiert,
weist auf den Wunsch der Männer hin, die Neigung ihrer Söhne
von der Mutter auf sich selbst zu übertragen,- die homosexuelle
Strömung macht sich wie auch sonst in diesen Riten geltend. Diese
Zeremonie hat also ebenso wie die Auferstehungsriten einen nega**
tiven Charakter: sie soll der Loslösung des Jünglings vom Weibe
dienen, die durch die unbewußte Inzesttendenz gekennzeichnete Be-
ziehung zur Mutter lockern,- sie annuliert die Geburt des Knaben
durch das Weib und glaubt dadurch die inzestuöse Libido beseitigt
zu haben.
Zu ganz anderer Ansicht über den Sinn dieser Riten gelangt man
freilich, wenn man, wie C. G. Jung1, an ihre Erforschung mit unserem
modernen, dem realistischen und plastischen Denken der Primitiven frem-
den Anschauungen an sie herantritt und in ihren Zeremonien eine hoch*»
1 »Wandlungen und Symbole der Libido« im »Jahrbuch für psychoanalytische
und psychopathologische Forschungen«. Bd. IV, 2, Hälfte, Wien und Leipzig 1912,
Dr. Theodor Reik
Jünglings gelockerte Band zwischen Vater und Sohn inniger zu
knüpfen. Wir haben die zahlreichen Riten dargestellt, in welchen der
Jüngling vom Geiste oder vom Totem verschlungen und wieder^
geboren wird. Was soll nun diese absurde Vorgabe, der Novize
werde von einem — doch gewiß männlichen — Totem wiedergeboren,
bedeuten? Wir könnten diesen Zug als sinnlos außer acht lassen,
doch die Psychoanalyse lehrt uns, auch solchen anscheinend völlig
widersinnigen Gedanken Aufmerksamkeit zu schenken und Bedeutung
zuzuschreiben.
Überwinden wir alle logischen Bedenken für einen Augenblick
und stellen wir uns auf den Boden der primitiven Anschauungswelt.
Wenn der Jüngling also nicht von seiner Mutter, sondern vom
Totem oder von seinem Vater geboren würde, welche Folgen hätte
diese so unnatürliche Geburt? Wir erinnern uns, daß die Wieder*»
gebürt in den Pubertätsriten mit der Ablösung der Novizen von
ihrer Mutter, also mit der Inzestverhinderung in Zusammenhang
steht. Diese Wiedergeburt hat also einen negativen Charakter. Sollte
sich nicht die sonderbare Praktik des Geborenwerdens durch den
Totem durch diese unsere Erkenntnis erklären lassen?
Die Männer der Primitiven benehmen sich so, als wäre die
Geburt des Knaben durch seine Mutter die Ursache der erotischen
Anziehung zwischen der Frau und ihrem Sohne. In dieser naiven
Ansicht steckt ja wirklich ein richtiger Kern,- hätte ein anderes Wesen
den Jungen geboren, so würde seine erste heftige Neigung nicht
dieser Frau gelten. Wenn man den geschlechtsreifen Jüngling aus
der inzestuösen Libidofixierung lösen will, so muß man folgerichtig
die Grundursache des Inzestbegehrens beseitigen: der Junge muß
wiedergeboren werden. Dieser radikale Versuch der Rückgängig*»
machung einer Tatsache erwächst aus der Furcht der Männer, die
unbewußten Inzestgelüste ihrer Frauen und Söhne könnten realisiert
werden. Daß der Geist oder der Totem die Jungen wiedergebiert,
weist auf den Wunsch der Männer hin, die Neigung ihrer Söhne
von der Mutter auf sich selbst zu übertragen,- die homosexuelle
Strömung macht sich wie auch sonst in diesen Riten geltend. Diese
Zeremonie hat also ebenso wie die Auferstehungsriten einen nega**
tiven Charakter: sie soll der Loslösung des Jünglings vom Weibe
dienen, die durch die unbewußte Inzesttendenz gekennzeichnete Be-
ziehung zur Mutter lockern,- sie annuliert die Geburt des Knaben
durch das Weib und glaubt dadurch die inzestuöse Libido beseitigt
zu haben.
Zu ganz anderer Ansicht über den Sinn dieser Riten gelangt man
freilich, wenn man, wie C. G. Jung1, an ihre Erforschung mit unserem
modernen, dem realistischen und plastischen Denken der Primitiven frem-
den Anschauungen an sie herantritt und in ihren Zeremonien eine hoch*»
1 »Wandlungen und Symbole der Libido« im »Jahrbuch für psychoanalytische
und psychopathologische Forschungen«. Bd. IV, 2, Hälfte, Wien und Leipzig 1912,