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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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IV.4
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Reik, Theodor: Die Pubertätsriten der Wilden, [2]: über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0217
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Die Pubertätsriten der Wilden

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entwickelte und sublimierte Symbolik vermutet. Wir haben bemerkt, daß
eine der wesentlichsten, unbewußten Motivierungen der Pubertätsriten
die von Vergeltungsfurcht diktierte Hemmung inzestuöser Tendenzen
ist. Jung nun behauptet neuerdings in erfolgreicher Unterdrüdcung
seiner früheren Überzeugung, daß »die unterste Grundlage des in-
zestuösen Begehrens nicht auf die Kohabitation hinausläuft, sondern
auf den eigenartigen Gedanken, wieder Kind zu werden, in den
Elternschutz zurückzukehren, in die Mutter hineinzugelangen, um
wieder von der Mutter geboren zu werden«1. Diesem Selbstver-
jüngungsgedanken nun begegnet Jung nicht nur in den Mysterien
der Antike, sondern auch in denen der primitiven Völker, wobei er
sich ausdrücklich auf Frazers in »The golden bough« niedergelegte
Forschungen beruft. Angeblich hat auch die Psychoanalyse das Miß-
Verständnis überwunden, daß es sich hiebei um das Aufgeben oder
Ausleben der gewöhnlichen Sexualwünsche handelt, während in
Wirklichkeit das Problem die Sublimierung der Infantilpersönlichkeit
ist, also mythologisch ausgedrückt — »eine Opferung und Wiedergeburt
des Infantilhelden«.
Es kann hier nicht versucht werden, die Unrichtigkeit der
Jungschen Ansichten, soweit sie sich auf die Psychologie der Neu-
rosen, der Träume, der Charakterbildung etc. beziehen, zu erweisen2.
Doch muß mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß
nichts in der großen Tatsachenreihe der Pubertätsriten für eine solche
theologisierende Auffassung von seiten der Wilden spricht. Jung
beruft sich mit Unrecht auf Frazer, denn dieses Forschers Vermu-
tung über den Sinn der Weihen geht dahin, daß Reinkarnation,
Wiedergeburt im physischen (nicht moralischen) Sinne, der Zweck
der Pubertätsriten sei.
Es würde schlecht mit der »Sublimierung der Infantilpersönlich-
keit«, der Opferung und Wiedergeburt des Infantilhelden in Ein-
klang zu bringen sein, daß das Ende der Weihen regelmäßig sexuelle
Orgien, Diebstahl und Gewalttat bringt. Tatsächlich ist der primi-
tiven Gedankenwelt nichts ferner gelegen als eine »anagogische«
Bedeutung der Riten. Übrigens ist es für Jung recht schwierig zu
erklären, wieso das Verschlungen- und Wiedergeborenwerden durch
den Geist oder Totem, also durch ein männliches Wesen, bedeuten
solle, daß der Novize wieder in den Leib der Mutter gelange und
von ihr wiedergeboren werde. Einen solchen Vorgang wie die
Wiedergeburt durch die Mutter würden auf einer primitiven Stufe
stehende Völker sicher viel realisdher dargestellt haben, wie na-
mentlich die Adoptionsbräuche zeigen3. Das Motiv der Wiedergeburt

1 Jahrbuch, p. 267.
2 Man vergleiche die Kritik der Jungsdien Lehre durch Freud, Abraham
und Ferenczi,
8 Ein Totgesagter im alten Griechenland galt, wenn er wider Erwarten
zurückkehrte, solange für unrein, bis er eine Wiedergeburt durchgemacht hatte,
d. h- er mußte durch den Schoß eines Weibes gehen, sich waschen, in Windeln

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