Das »Schauspiel« in »Hamlet«.
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Das »Schauspiel« in »Hamlet«.
Ein Beitrag zur Analyse und zum dynamischen Verständnis der Dichtung1
von Dr. OTTO RANK.
Nach Freuds Deutung wurzelt die Unfähigkeit Hamlets, am
Oheim Rache für die Ermordung seines Vaters zu nehmen,
in der »Ödipuseinstellung«, die ihn hindert, den Mann zu
töten, der in Erfüllung seiner eigenen unbewußten Wünsche seinen
Vater beseitigt und bei der Mutter dessen Stelle eingenommen
hat. Das ganze Stück besteht eigentlich in nichts anderem als in
kunstvoll durchgeführten Verzögerungen dieser vom Helden ge®
forderten Handlung, die sich erst am Schluß, in dem großen all®
gemeinen Sterben, sozusagen hervorwagt.
Ich möchte nun zeigen, welche Bedeutung dem vielbesprochenen
»Schauspiel im Schauspiel« in diesem komplizierten Apparat der
Hemmungen und Verzögerungen zukommt und wie es, von diesem
Standpunkt betrachtet, geradezu der Höhe® und Wendepunkt der
dramatischen und seelischen Entwicklung genannt zu werden verdient.
Nachdem Hamlet, der zunächst nur über den plötzlichen Tod
seines Vaters trauert und über die rasche Wiederverheiratung seiner
Mutter empört ist, vom Geist seines verstorbenen Vaters dessen
Mord erfahren hat, steht die Rache am Mörder als sein einziger
Lebenszweck bei ihm fest. Er tut aber gar nichts zur Ausführung,
sondern heuchelt bloß Wahnsinn, angeblich um ungehindert einen
Plan anlegen zu können, der aber nirgends in Erscheinung tritt. Im
Gegenteil wird der Held erst durch die Ankunft der Schauspieltruppe
und den ergreifenden Probevortrag des Spielers daran gemahnt, daß
er bis jetzt anstatt zu Handeln nur — wie ein Komödiant —- ge®
spielt habe, indem er einen Wahnsinnigen agierte. Stärker als diese
äußere Beziehung wirkt die inhaltliche anfeuernd auf Hamlet. Die
Rede des Schauspielers behandelt nämlich die grausame Tötung
eines Königs <Priamos> und den Schmerz seiner treuen Gattin (Hekuba),
dessen bloße Schilderung den Vortragenden selbst zu Tränen rührt
und den Prinzen so erinnert, daß er viel mehr Grund hätte, um der
geschehenen Taten willen <»um Hekuba«) seine tiefsten Leiden®
schäften in Handlungen ausströmen zu lassen, anstatt müßig zu
bleiben und zu träumen. Es gelingt aber nicht, ihn durch diesen
vorgehaltenen Seelenspiegel zur Tat anzuspornen, sondern er bringt
1 Vgl. Freud, Die Traumdeutung, 1900, p. 183 f. Anmkg. <4. Aufl. 1914,
p. 199f.). Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden (Schriften z. angew.
Seelenk., Heft V, 1909). Jones, The Oedipus®Complex as an Explanation of
Hamlet's Mystery. (American Journal of Psychol. vol. XXI. Jan. 1910. Deutsch von
P. Tausig: Das Problem des Hamlet und der Ödipuskomplex. Schriften z. ange®
wandten Seelenkunde, hg. v. Prof. S. Freud, 10. Heft, 1911.) Rank, Das Inzest®
motiv in Dichtung und Sage, 1912, Kap. II und VI.
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Das »Schauspiel« in »Hamlet«.
Ein Beitrag zur Analyse und zum dynamischen Verständnis der Dichtung1
von Dr. OTTO RANK.
Nach Freuds Deutung wurzelt die Unfähigkeit Hamlets, am
Oheim Rache für die Ermordung seines Vaters zu nehmen,
in der »Ödipuseinstellung«, die ihn hindert, den Mann zu
töten, der in Erfüllung seiner eigenen unbewußten Wünsche seinen
Vater beseitigt und bei der Mutter dessen Stelle eingenommen
hat. Das ganze Stück besteht eigentlich in nichts anderem als in
kunstvoll durchgeführten Verzögerungen dieser vom Helden ge®
forderten Handlung, die sich erst am Schluß, in dem großen all®
gemeinen Sterben, sozusagen hervorwagt.
Ich möchte nun zeigen, welche Bedeutung dem vielbesprochenen
»Schauspiel im Schauspiel« in diesem komplizierten Apparat der
Hemmungen und Verzögerungen zukommt und wie es, von diesem
Standpunkt betrachtet, geradezu der Höhe® und Wendepunkt der
dramatischen und seelischen Entwicklung genannt zu werden verdient.
Nachdem Hamlet, der zunächst nur über den plötzlichen Tod
seines Vaters trauert und über die rasche Wiederverheiratung seiner
Mutter empört ist, vom Geist seines verstorbenen Vaters dessen
Mord erfahren hat, steht die Rache am Mörder als sein einziger
Lebenszweck bei ihm fest. Er tut aber gar nichts zur Ausführung,
sondern heuchelt bloß Wahnsinn, angeblich um ungehindert einen
Plan anlegen zu können, der aber nirgends in Erscheinung tritt. Im
Gegenteil wird der Held erst durch die Ankunft der Schauspieltruppe
und den ergreifenden Probevortrag des Spielers daran gemahnt, daß
er bis jetzt anstatt zu Handeln nur — wie ein Komödiant —- ge®
spielt habe, indem er einen Wahnsinnigen agierte. Stärker als diese
äußere Beziehung wirkt die inhaltliche anfeuernd auf Hamlet. Die
Rede des Schauspielers behandelt nämlich die grausame Tötung
eines Königs <Priamos> und den Schmerz seiner treuen Gattin (Hekuba),
dessen bloße Schilderung den Vortragenden selbst zu Tränen rührt
und den Prinzen so erinnert, daß er viel mehr Grund hätte, um der
geschehenen Taten willen <»um Hekuba«) seine tiefsten Leiden®
schäften in Handlungen ausströmen zu lassen, anstatt müßig zu
bleiben und zu träumen. Es gelingt aber nicht, ihn durch diesen
vorgehaltenen Seelenspiegel zur Tat anzuspornen, sondern er bringt
1 Vgl. Freud, Die Traumdeutung, 1900, p. 183 f. Anmkg. <4. Aufl. 1914,
p. 199f.). Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden (Schriften z. angew.
Seelenk., Heft V, 1909). Jones, The Oedipus®Complex as an Explanation of
Hamlet's Mystery. (American Journal of Psychol. vol. XXI. Jan. 1910. Deutsch von
P. Tausig: Das Problem des Hamlet und der Ödipuskomplex. Schriften z. ange®
wandten Seelenkunde, hg. v. Prof. S. Freud, 10. Heft, 1911.) Rank, Das Inzest®
motiv in Dichtung und Sage, 1912, Kap. II und VI.