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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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IV.2
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Sachs, Hanns: Schillers Geisterseher, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0077
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AG O
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHO»
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
IV. 2. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1915


Schillers Geisterseher.
Von Dr. HANNS SACHS, Wien.
Das Fragment, in welchem Schiller zu seinem einzigen Versuch
einer größeren, nicht im Boden der Historie, sondern in der eigenen
Phantasie wurzelnden Prosa-Erzählung ausholte, ist durdi seine
Entstehungsweise und seine Komposition ebenso merkwürdig, wie
durdi die Aufnahme, die es gefunden hat. Den Zeitgenossen schien
kaum ein anderes Produkt seines poetischen Schaffens gleich anziehend
und beachtenswert. Der Beifall des großen Publikums war so leb-
haft, daß der Dichter die Fortsetzung des Romans als sichere Geld-
quelle und als Grundlage für die Beliebtheit der »Rheinischen Thalia«,
in der die Veröffentlichung begonnen hatte, betrachten konnte,- auch
ernste Kritiker, Literaten und Philosophen, bei denen weder »Kabale
und Liebe« noch »Fiesco« oder »Die Räuber« Beifall gefunden hatten,
belobten das Werk aufs höchste und ermunterten den Autor zur
Fortführung. Als sich dieser der ihm verhaßt gewordenen Arbeit
endgiltig weigerte, fand sich eine ganze Anzahl von Schriftstellern,
die den angefangenen Bau nach eigenem Gutdünken zu vollenden
suditen. Eine dieser Fortsetzungen, von dem preußischen Hofgerichts^
rat Follenius herstammend, hat ein Stück von der Beliebtheit des
Originals auf sich herüberzuziehen gewußt, wie die wiederholten
Aurlagen bezeugen. So trefflich hatte es Schiller verstanden, sein
Werk auf die stärksten Interessen im Geistesleben seiner Zeitgenossen
aufzubauen und ihre Phantasie bis zur mitschöpferischen Tätigkeit
anzuregen.
Das Urteil der Literarhistoriker, die in Schiller nicht mehr den
problematischen Himmelstürmer, sondern den unantastbar gewordenen
»Klassiker« sehen, ist sonderbarerweise viel kälter und ablehnender
ausgefallen. Sie haben alle für den »Geisterseher« wenig übrig, be-
trachten ihn nur im Vorbeigehen und ziemlich von oben herab.
Offener Tadel wechselt mit kühlem Lob,- die Lust, das Werk bis
ins kleinste Detail zu ergründen, seinem Aufbau und den Ursachen
 
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