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Dr. Eduard Hitsdimann
Gottfried Keller.
Psychoanalytische Behauptungen und Vermutungen über
sein Wesen und sein Werk.
Von Dr. EDUARD HITSCHMANN.
(Fortsetzung und Schluß.)
III. Mutter und Schwester.
1. Unbewußte Liebe.
Eine rührende Gestalt ist Kellers Mutter, der ein Schweizer, August
Steiger, eine eigene Studie gewidmet hat. Als bald dreißig^
jährige Landdoktorstoditer heiratete sie den etwas jüngeren,
eleganten, weitgereisten und gewandten Drechsler Rudolf Keller, der
nach einem kurzen, idealen Bestrebungen und gemeinnützigem
Wirken gewidmeten Leben im siebenten Jahre der Ehe starb. In
mehr als bescheidenen Verhältnissen zurückgeblieben, lebte sie in
ihrer frommen, rechtschaffenen und sparsamen Art nur ihren Kindern.
Nach zwei Jahren allerdings heiratete sie den ersten Gesellen des
Drechslergeschäftes, aber »es war ein Irrtum und nach wenig Jahren
wurde die Ehe wieder geschieden« (Bächtold), Sie selbst war un~
ermüdlich, vermochte aber nicht ihren Sohn zur Arbeit anzuhalten,
sondern gab allzuviel in ihrer Liebe nach. Zieht man den »Grünen
Heinrich« heran, um das Verhältnis des Knaben zur Mutter kennen
zu lernen, so sieht man die nachsichtige Mutterliebe nicht belohnt.
Heinrich übt scharfe Kritik an ihren einfachen Mahlzeiten,- ver-
weigert trotzend das Tischgebet, obwohl er sieht, wie tief dies die
Mutter kränkt,- ängstigt sie durch nächtliches Wegbleiben,- stiehlt,
belügt sie und täuscht ihren sorglosen Glauben, ein braves
und gutartiges Kind zu besitzen, grausam. Nach früheren
Schulanständen wird der Fünfzehnjährige eines Tages mit mehr
oder minder Berechtigung aus der Schule ausgeschlossen, und die
hilflose Witwe sieht ihren Sohn vor die Türe gestellt, mit den
Worten: Er ist nicht zu brauchen! Weltunerfahren, unsicher in ihrem
beschränkten Witwentum, ist sie nun in Bedrängnis, was weiter mit
ihm werden soll, und da Gottfried Maler werden will — »weil es
dem halben Kinde als das Buntere und Lustigere erschien« —, gibt
sie ihm gegen das Abreden gesetzter Berater schweren Herzens
nach, um ihn ja nicht zu einem ihm widerstrebenden Lebensberuf
zu bestimmen. Sechs Jahre und ein ordentliches Lehrgeld gehen
nun verloren, dann treibt es den jungen Künstler nach München.
Das Mütterlein schickt ihm Geld und wieder Geld und schreibt ihm
Briefe voll tiefer Bemühung um sein Fortkommen. Die Sendungen
Dr. Eduard Hitsdimann
Gottfried Keller.
Psychoanalytische Behauptungen und Vermutungen über
sein Wesen und sein Werk.
Von Dr. EDUARD HITSCHMANN.
(Fortsetzung und Schluß.)
III. Mutter und Schwester.
1. Unbewußte Liebe.
Eine rührende Gestalt ist Kellers Mutter, der ein Schweizer, August
Steiger, eine eigene Studie gewidmet hat. Als bald dreißig^
jährige Landdoktorstoditer heiratete sie den etwas jüngeren,
eleganten, weitgereisten und gewandten Drechsler Rudolf Keller, der
nach einem kurzen, idealen Bestrebungen und gemeinnützigem
Wirken gewidmeten Leben im siebenten Jahre der Ehe starb. In
mehr als bescheidenen Verhältnissen zurückgeblieben, lebte sie in
ihrer frommen, rechtschaffenen und sparsamen Art nur ihren Kindern.
Nach zwei Jahren allerdings heiratete sie den ersten Gesellen des
Drechslergeschäftes, aber »es war ein Irrtum und nach wenig Jahren
wurde die Ehe wieder geschieden« (Bächtold), Sie selbst war un~
ermüdlich, vermochte aber nicht ihren Sohn zur Arbeit anzuhalten,
sondern gab allzuviel in ihrer Liebe nach. Zieht man den »Grünen
Heinrich« heran, um das Verhältnis des Knaben zur Mutter kennen
zu lernen, so sieht man die nachsichtige Mutterliebe nicht belohnt.
Heinrich übt scharfe Kritik an ihren einfachen Mahlzeiten,- ver-
weigert trotzend das Tischgebet, obwohl er sieht, wie tief dies die
Mutter kränkt,- ängstigt sie durch nächtliches Wegbleiben,- stiehlt,
belügt sie und täuscht ihren sorglosen Glauben, ein braves
und gutartiges Kind zu besitzen, grausam. Nach früheren
Schulanständen wird der Fünfzehnjährige eines Tages mit mehr
oder minder Berechtigung aus der Schule ausgeschlossen, und die
hilflose Witwe sieht ihren Sohn vor die Türe gestellt, mit den
Worten: Er ist nicht zu brauchen! Weltunerfahren, unsicher in ihrem
beschränkten Witwentum, ist sie nun in Bedrängnis, was weiter mit
ihm werden soll, und da Gottfried Maler werden will — »weil es
dem halben Kinde als das Buntere und Lustigere erschien« —, gibt
sie ihm gegen das Abreden gesetzter Berater schweren Herzens
nach, um ihn ja nicht zu einem ihm widerstrebenden Lebensberuf
zu bestimmen. Sechs Jahre und ein ordentliches Lehrgeld gehen
nun verloren, dann treibt es den jungen Künstler nach München.
Das Mütterlein schickt ihm Geld und wieder Geld und schreibt ihm
Briefe voll tiefer Bemühung um sein Fortkommen. Die Sendungen