Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

DOI Heft:
IV.2
DOI Artikel:
Kaplan, Leo: Der tragische Held und der Verbrecher
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0104
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
98

Leo Kaplan

Der tragische Held und der Verbrecher.
Ein Beitrag zur Psychologie des Tragischen von LEO KAPLAN.
Das Schuldbewußtsein und die Strafe. — Orestes. —Marmeladow.—
Raskolnikow. — Brynhild. — Der Sündenbode.
»Der Verbrecher ist häufig genug seiner
Tat nicht gewachsen: er verkleinert und
verleumdet sie.« Nietzsche. Jenseits von
Gut und Böse. Aphor, 109.
»Wer über einen Menschen das Urteil
spricht, hat es über sich gesprochen.«
Chassidischer Spruch.
Das Schuldbewußtsein und die Strafe.
In einer früheren Arbeit: »Zur Psychologie des Tragischen« 1 habe
ich eine Parallele gezogen zwischen dem tragischen Helden und
dem Verbrecher. Der Gedanke war dort folgendermaßen aus-
gesprochen: »Der tragische Held verletzt die durch den Willen der
Allgemeinheit der Individualpsyche suggerierte Norm . . . Der tragi-
sche Held kann somit als der Verbrecher betrachtet werden,- seine
Leiden bedeuten dann die Wiederherstellung der verletzten Norm
. . . — die eindringlichste Wiederholung des ,soziaLethischen
Unwerturteils' über die Tose' Tat. Auch umgekehrt ist der wirk*
liehe Verbrecher der Repräsentant des ,Bösen', das tief in unserem
Unbewußten schlummert. Wie der tragische Held muß er Leiden
auf sich nehmen, er muß bestraft werden: das fordert unser Rechts*
bewußtsein.« Die tragische Verwicklung setzt somit das Schuld*
bewußtsein — das Gewissen — voraus. Wir wollen nun als
Ausgangspunkt unserer Untersuchung das Schuldbewußtsein nehmen
und den Weg von hier bis zum tragischen Abschluß verfolgen.
Die Tatsache des Schuldbewußtseins ist z. B. aus folgenden Kri*
minalfällen ersichtlich:
[1] »Die Geschwornen in Brüx sprachen 1903 die Bergarbeitersgattin
Marie M. vom Morde an ihrem Gatten frei. Am Silvestertage 1904 er*
schien die Freigesprochene beim Staatsanwalt und erzählte ihm, daß sie
die Last ihres bösen Gewissens nicht länger ertragen könne
und deshalb eingestehe, ihren Gatten durch Gift beseitigt zu haben.« —
[2] »Im Jahre 1850 hat zuKlenowitz in Mähren einPhilipp S, sein Weib
und seine Kinder umgebracht. Er hatte sich dadurch, daß er seiner Magd
Liebesbezeigungen machte, die Erbitterung seiner Gattin zugezogen. Aus
Wut darüber tötete er sie des Nachts und als durch deren Schrei die
Kinder erwachten, zu weinen und zu schreien anfingen, auch diese. Am
anderen Morgen ging er zu Gericht und gestand, von Reue er*
schüttert, seine Tat aus eigenem Antriebe ein.«2

1 Imago, Bd. I, H. 2.
2 Ernst Lohsing. Das Geständnis in Strafsachen. <Jurist.*psychiatr. Grenz*
fragen, Bd. III, H. 1-3) p. 100 u. 104. Halle a. S., 1905. Carl Marhold,
 
Annotationen