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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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Sachs, Hanns: Schillers Geisterseher, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0078
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Dr. Hanns Sachs

seiner ästhetischen Wirkung nachzuforschen, die den deutschen Literat
historiker sonst auch vor dem ärmlichsten Produkt, wenn es einen
verehrten Namen trägt, nicht zu verlassen pflegt, war hier fast gar
nicht am Werke.
Bei genauerer Prüfung und immer weiteren Zurückgehen findet
man an der Quelle dieser Geringschätzung niemand anderen, als
den Dichter selbst. In seinen Briefen, die den Mitlebenden natürlich
verschlossen blieben, aber seinen Biographen aufs genaueste bekannt
waren, beklagt er sich über die widerwärtige Arbeit, die er sich
aufgehalst habe und nun des leidigen Geldverdienens halber nicht
loswerden könne, nennt das Werk ein »Geschmier« und fragt sich
selbst, welcher Dämon ihn zu diesem Plane veranlaßt habe. Trotzdem
bleibt es merkwürdig, daß das Urteil Schillers solchen Einfluß üben
konnte. Ist es doch bis zum Sprichwörtlichen bekannt, daß jedem
Autor die Fähigkeit zur richtigen Einschätzung seiner eigenen Pro*
dukte fehle, mag seine kritische Gabe im übrigen noch so stark ent*
wickelt sein. Die Beispiele, in denen große Dichter ihr schwächstes
Werk mit besonderer Liebe bedachten und es über alle anderen stellten,
lassen sich beliebig häufen. Auch hat Schiller das LIrteil, das er
während der Produktion fällte, später wenigstens in einem Punkte
korrigiert, indem er das philosophische Gespräch, das ihm damals
der einzige wertvolle Bestandteil des Romans schien, in der Buch*
ausgabe bedeutend abkürzte — zum unzweifelhaften Vorteil des
Werkes.
Die Ablehnung des »Geisterseher«, wenn sie sich auch ihre
Berechtigung durch das Urteil des Dichters bestätigen zu lassen
sucht, hat tiefere Gründe. Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist
es, zu ordnen und zu sichten, Zusammenhänge herzustellen und
Übersichten zu ermöglichen. So unterliegt sie zuweilen der Versu*
chung, über die kleinen Widersprüche innerhalb der Persönlichkeit
hinwegzusehen und einfachere Linien zu ziehen, als sie das Leben
selbst zu bieten pflegt. Was im Schaffen und Erleben verworren
und undurchsichtig bleiben mußte, wird säuberlich auseinandergelegt
und, gutwillig oder nicht, in seine Kategorien eingereiht. Bei diesem
löblichen Ordnungssinn kann es leider nur allzuleicht geschehen, daß
das Wirken eines großen Menschen zum »Lehrstoff« erstarrt, gehst*
los und mechanisch von einer Generation der nächsten überliefert
wird, die dann statt der Fülle und des Reiditums des Genies ein
trockenes Kathedergespenst kennen lernt. Es ist fast unmöglich ein
Menschenleben demonstrierend zu zerlegen ohne das »geistige Band«
zu zerstören, das die heterogenen Teile zur unwidersprechlichsten
Einheit zusammenfaßt. So wird denn gleich ins einzelne und be*
sondere hinein fröhlich drauflosgearbeitet und Material herbeige*
bracht und aufeinandergetürmt, bis die Gestalt des Dichters mitsamt
seinen Leistungen hinter dieser Mauer verschwindet. Goethe ist auf
dem besten Weg zu dieser Himmelfahrt auf Nimmerwiedersehen,-
eine vollständige Goethe*Ausgabe mit Hinweglassung der Werke —
 
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