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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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IV.2
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Sachs, Hanns: Schillers Geisterseher, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0079
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Schillers Geisterseher.

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die Schulübungen, Ministerialdekrete und Geschäftsbriefe sind ja so
unendlich wichtig zur »Kenntniss seiner Persönlichkeit«, — ist eigent-
lich der letzte Schritt, der noch zu machen ist. Schiller ist ihm
schon längst vorausgeschidct worden. Sein scheinbar viel weniger
kompliziertes Wesen und Wirken eignet sich auch viel besser zur
Erledigung durch einige Schlagworte. So wird uns auf der einen
Seite, bis zum Don Carlos, der glühende Geniejüngling gezeigt, in
Sturm und Drang, Übersdhäumen und Ungestüm, und von da an
unentwegt das andere Bild vorgehalten: Der Schüler Kants und
Freund Goethes, der »Idealist« und »Klassiker«, Nur gerade der
»Geisterseher« läßt sich in keines der beiden Schubfächer unterbringen,
denn neben starkem Realismus enthüllt er deutlich des Dichters neue,
philosophisdh«idealistische Tendenzen, Auch der Entstehungszeit nach
ist sein Platz gerade an jenem Wendepunkt, wo Schillers Geistes-
leben die große Knickung durchmacht, um von da ab in neuen Ge«
leisen weiterzulaufen. Der erste Teil wurde während der Vollendungs-
arbeit am Don Carlos verfaßt, die Fortsetzungen entstanden, als
sich Schiller von der Poesie mit Entschiedenheit abgekehrt hatte, um
sich ganz der Philosophie und Geschichte zu widmen, nur der Ge-
dankenlyrik noch willig einen Platz einräumend,- der »Geisterseher«
war das einzige, ungern mitgeschleppte Überbleibsel früherer Be-
schäftigung. Also ein Zwittergeschöpf aus einer Übergangsperiode
ließe sich rasch urteilen, eingehender ästhetischer Betrachtung kaum
würdig.
Der Psychologe wertet anders,- das Werk wird ihn eben des«
halb zur Durchforschung reizen, weil bei seiner Abfassung in der
Seele des Dichters ein noch nicht völlig entschiedener Konflikt zu
Ende gekämpft wurde. Gerade hier, wo Kraft und Widerstand
noch nicht erstarrt sind und die neue Formel, in der beide ver-
schmelzen sollen, sich erst vorbereitet, gerade hier darf man erwarten,
Spuren zu finden, die etwas von dem Geheimsten der an jenem
großen Umschwung beteiligten Motive erraten lassen. Für eine
solche Untersuchung wäre der »Geisterseher« auch dann ein will-
kommenes Objekt, wenn ihm seine Entstehung in einer Zeit innerer
Unsicherheit den künstlerischen Gehalt gemindert hätte.
Wer sich über diesen Punkt trotzdem nodi Sorgen macht,
wird sie leicht zerstreuen, wenn er statt in die Urteile über das
Werk sich in das Werk selbst vertieft. Es übt heute noch mit der
unvergänglichen Frische seiner Kunst« und Natur«Wahrheit den
gleichen Zauber aus, wie einst, führt die Leser unseres Jahrhunderts
mit ebenso sicherer Hand durch seine Welt von Seelenfängerei
und Verschwörungen, von grotesken Abenteuern und ungewöhn«
liehen Gestalten wie jene ersten aus dem Zeitalter des Zopfes und
der Aufklärung. Es gibt nicht wenige solcher Meisterwerke Schillers,
deren Genuß manchem unter uns entfremdet wurde und doch so
leicht wiederzugewinnen ist. Es kommt nur darauf an, sich durch«
zudrängen durch den Vorhof, in dem die Priester und Schriftge«
 
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