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Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde.
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
11. Jahrgang. Wien, 15. April 1919. Nr. 8.
Gotische Plastik im
Von Professor Alice
Es ist eigentümlich, wie nahe die moderne Kunst
wieder der Gotik kommt und wie dadurch die Gotik
für uns an Interesse gewinnt. Daß ein Eindringen in
die Gotik schwer ist, weil das Material dazu ja noch
gar nicht gesichtet ist und die archivalische Forschung
uns meist im Stich läßt, ist klar. Aber das macht die
Aufgabe nur um so reizvoller. Besonders die Plastik,
als die schärfste Formulierung des Zeit- und Lokal-
charakters, lockt dazu, bestimmte Typen aufzustellen
und an ihnen die Kräfte — und Bewegungslinien
hervorzuheben, wie sie die gotischen Bildwerke für
uns so interessant machen.
Im Museum von Salzburg lassen sich nun solche
Typen wohl herausgreifen, nur ist es nicht immer mög-
lich, sie bestimmt zu lokalisieren, und ist es einstweilen
überhaupt noch ganz unmöglich, von einer eigentlichen
Salzburger Schule zu sprechen. Gerade an den im
Museum vorhandenen guten Skulpturen merkt man,
daß Salzburg die rezeptive Stadt ist, nicht die eigent-
lich schöpferische, daß wohl fremde Meister sich hier
zum Schaffen angeregt fühlen können, daß aber hier
nicht der Boden ist für eigene, lokal bestimmte Kunst-
tätigkeit.
Da sind zunächst zwei unbemalte Holzskulpturen,
die beide das Thema: Die Muttergottes mit dem
Christuskind auf dem Arm behandeln und die eventuell
von demselben Meister herrühren können. Die eine,
64 cm hoch (Kunsttopographie: Städt. Museum, Caro-
lino Augusteum, Bd. XVI, T. XVII), stellt eine sitzende
Madonna dar, die auf dem rechten Arm das Christus-
kind trägt und ihm mit der linken Hand eine Frucht
entgegenhält. Es ist das lieblichste Werk, welches das
Salzburger Museum aufzuweisen hat. Um 1400 ungefähr
entstanden, zeigt es eine Zartheit und Kühnheit zu-
gleich, wie sie nur ganz selten gelingen und nur im
stärksten Expressionismus möglich sind. Da geht eine
steile Diagonale vom Boden durch das Kleid der Ma-
donna über ihr Knie zu dem Kind hinauf, das die
psychologische Erklärung zu dieser steilen Linie gibt:
es wirft beide Arme in die Höhe, so daß sich die Ober-
arme heben, in Freude und Übermut will der kleine,
noch unselbständige Körper aufsteigen, ohne ' daß er-
sieh schon ganz lösen könnte. Da bringt also diese Linie
das Hauptmotiv: ein Sich-aufrichten, ein Beginnen,
em Erwachen, Jugend und Freude, dasselbe Motiv,
das die Barockzeit durch die Gestalten der Persephone
und des Frühlings zum Ausdruck bringt. Entsprechend
Salzburger Museum.
Schulte (Salzburg).
diesem knospenhaften Empfinden, ist das Kind wie
eine kleine, sich hebende Knospe, und die Falten, die
dazu hinaufleiten, sind zwei dünne, scharfe Grate,
durch ein breites Tal getrennt — wie Blütenstiele.
Eine so starke Bewegungsdiagonale verlangt aber
nach der Gegenbewegung, nach Erklärung und Wieder-
holung. Die zweite Diagonale ist kürzer, aber in gleicher
Weise verbindet sie die beiden Personen. Sie geht von
dem Kopftuch der Madonna, das in sehr wenigen Falten
über den schmalen, ganz zarten Oberleib hinwegreicht,
zu den Schultern des Kindes, das nach diesem Tuch
greift, so daß beide Diagonalen von der Mutter ausgehen
und sich im Kinde schneiden. Diese Verbindung ist
so innig, daß die Bewegung in dem Bilde nur den
Zweck haben kann, ein Anheben der Lösung zu geben.
Das ist zugleich eines der Probleme der gotischen
Madonnenstatuen überhaupt, dieses Lösen und Binden
der zwei Gestalten. Von diesem Motiv aus wollen solche
Gruppen verstanden und gewertet sein. Die zwei
Diagonalen binden hier Mutter und Kind zusammen,
lösend wirken dagegen die Senkrechten undHorizontalen,
die Senkrechte im Körper des Kindes und die Hori-
zontale, die von der linken, den Apfel haltenden Hand
der Madonna, zu dem Kinde hinüberleitet. Bindend
ist aber der Sinn, die gemeinsame Freude, die in den
ganz ähnlich gebildeten, knospenhaften Gesichtern
liegt, bindend auch die Tücher, das Kind faßt nach
dem Kopftuch der Mutter und hält in der linken Hand
eine kleine Faltenkaskade, die Mutter hält das Kind
so, daß sein Tuch von ihrer Rechten in einer größeren,
durch einen angelehnten Stamm noch verstärkten
Kaskade niedergeht. Beide Kaskaden nur zart und
zurückhaltend abgetreppt.
Zugleich aber streben die Augen der Madonna und
des Kindes in der Richtung des Schnittpunktes der
Diagonalen aus der Gruppe heraus, so daß diese sich
fortzubewegen scheint. So geschlossen die Gruppe
in sich ist, so ruht sie doch nicht in sich wie die griechi-
schen Statuen, sondern es gehen die Blicke und die
Bewegungen auf irgend etwas Fernliegendes zu. Die
obere Diagonale, welche die kürzere zu sein scheint,
hat diese starke Zugwirkung, und stellt man sich so,
daß man in dieser Richtung die Blicke auffängt, so
ist die Gruppe von hier aus am allervollkommensten.
Die beiden Köpfe und die Hände werden da am aller-
beredtesten, und die mystische Holdseligkeit kommt
leise dem Schauenden entgegen wie ein Gestirn.
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Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde.
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
11. Jahrgang. Wien, 15. April 1919. Nr. 8.
Gotische Plastik im
Von Professor Alice
Es ist eigentümlich, wie nahe die moderne Kunst
wieder der Gotik kommt und wie dadurch die Gotik
für uns an Interesse gewinnt. Daß ein Eindringen in
die Gotik schwer ist, weil das Material dazu ja noch
gar nicht gesichtet ist und die archivalische Forschung
uns meist im Stich läßt, ist klar. Aber das macht die
Aufgabe nur um so reizvoller. Besonders die Plastik,
als die schärfste Formulierung des Zeit- und Lokal-
charakters, lockt dazu, bestimmte Typen aufzustellen
und an ihnen die Kräfte — und Bewegungslinien
hervorzuheben, wie sie die gotischen Bildwerke für
uns so interessant machen.
Im Museum von Salzburg lassen sich nun solche
Typen wohl herausgreifen, nur ist es nicht immer mög-
lich, sie bestimmt zu lokalisieren, und ist es einstweilen
überhaupt noch ganz unmöglich, von einer eigentlichen
Salzburger Schule zu sprechen. Gerade an den im
Museum vorhandenen guten Skulpturen merkt man,
daß Salzburg die rezeptive Stadt ist, nicht die eigent-
lich schöpferische, daß wohl fremde Meister sich hier
zum Schaffen angeregt fühlen können, daß aber hier
nicht der Boden ist für eigene, lokal bestimmte Kunst-
tätigkeit.
Da sind zunächst zwei unbemalte Holzskulpturen,
die beide das Thema: Die Muttergottes mit dem
Christuskind auf dem Arm behandeln und die eventuell
von demselben Meister herrühren können. Die eine,
64 cm hoch (Kunsttopographie: Städt. Museum, Caro-
lino Augusteum, Bd. XVI, T. XVII), stellt eine sitzende
Madonna dar, die auf dem rechten Arm das Christus-
kind trägt und ihm mit der linken Hand eine Frucht
entgegenhält. Es ist das lieblichste Werk, welches das
Salzburger Museum aufzuweisen hat. Um 1400 ungefähr
entstanden, zeigt es eine Zartheit und Kühnheit zu-
gleich, wie sie nur ganz selten gelingen und nur im
stärksten Expressionismus möglich sind. Da geht eine
steile Diagonale vom Boden durch das Kleid der Ma-
donna über ihr Knie zu dem Kind hinauf, das die
psychologische Erklärung zu dieser steilen Linie gibt:
es wirft beide Arme in die Höhe, so daß sich die Ober-
arme heben, in Freude und Übermut will der kleine,
noch unselbständige Körper aufsteigen, ohne ' daß er-
sieh schon ganz lösen könnte. Da bringt also diese Linie
das Hauptmotiv: ein Sich-aufrichten, ein Beginnen,
em Erwachen, Jugend und Freude, dasselbe Motiv,
das die Barockzeit durch die Gestalten der Persephone
und des Frühlings zum Ausdruck bringt. Entsprechend
Salzburger Museum.
Schulte (Salzburg).
diesem knospenhaften Empfinden, ist das Kind wie
eine kleine, sich hebende Knospe, und die Falten, die
dazu hinaufleiten, sind zwei dünne, scharfe Grate,
durch ein breites Tal getrennt — wie Blütenstiele.
Eine so starke Bewegungsdiagonale verlangt aber
nach der Gegenbewegung, nach Erklärung und Wieder-
holung. Die zweite Diagonale ist kürzer, aber in gleicher
Weise verbindet sie die beiden Personen. Sie geht von
dem Kopftuch der Madonna, das in sehr wenigen Falten
über den schmalen, ganz zarten Oberleib hinwegreicht,
zu den Schultern des Kindes, das nach diesem Tuch
greift, so daß beide Diagonalen von der Mutter ausgehen
und sich im Kinde schneiden. Diese Verbindung ist
so innig, daß die Bewegung in dem Bilde nur den
Zweck haben kann, ein Anheben der Lösung zu geben.
Das ist zugleich eines der Probleme der gotischen
Madonnenstatuen überhaupt, dieses Lösen und Binden
der zwei Gestalten. Von diesem Motiv aus wollen solche
Gruppen verstanden und gewertet sein. Die zwei
Diagonalen binden hier Mutter und Kind zusammen,
lösend wirken dagegen die Senkrechten undHorizontalen,
die Senkrechte im Körper des Kindes und die Hori-
zontale, die von der linken, den Apfel haltenden Hand
der Madonna, zu dem Kinde hinüberleitet. Bindend
ist aber der Sinn, die gemeinsame Freude, die in den
ganz ähnlich gebildeten, knospenhaften Gesichtern
liegt, bindend auch die Tücher, das Kind faßt nach
dem Kopftuch der Mutter und hält in der linken Hand
eine kleine Faltenkaskade, die Mutter hält das Kind
so, daß sein Tuch von ihrer Rechten in einer größeren,
durch einen angelehnten Stamm noch verstärkten
Kaskade niedergeht. Beide Kaskaden nur zart und
zurückhaltend abgetreppt.
Zugleich aber streben die Augen der Madonna und
des Kindes in der Richtung des Schnittpunktes der
Diagonalen aus der Gruppe heraus, so daß diese sich
fortzubewegen scheint. So geschlossen die Gruppe
in sich ist, so ruht sie doch nicht in sich wie die griechi-
schen Statuen, sondern es gehen die Blicke und die
Bewegungen auf irgend etwas Fernliegendes zu. Die
obere Diagonale, welche die kürzere zu sein scheint,
hat diese starke Zugwirkung, und stellt man sich so,
daß man in dieser Richtung die Blicke auffängt, so
ist die Gruppe von hier aus am allervollkommensten.
Die beiden Köpfe und die Hände werden da am aller-
beredtesten, und die mystische Holdseligkeit kommt
leise dem Schauenden entgegen wie ein Gestirn.