4°
Julius von Schlosser.
Die geistlichen
Schauspiele.
Italien.
Die
Encyclopädien
des
Brunctto Latini.
Fig. 6. Die Medicin.
Kathedrale von Laon.
(Nach Viollet-Ie-Duc.)
Anzahl von Figuren (nach Didron's Zählung 1488 Statuen!) ist hier die ganze Geschichte (natürlich
nur die biblische) von der Erschaffung Adams an durch die Zeit ante legem und ante gratiam bis zum
Anbruche der gnadenreichen Zeit der Erlösung (sub gratia) abgehandelt, welch"
letztere durch das Leben Christi und Maria sowie durch die Heiligen dargestellt
ist. Den Schluss machen die letzten Dinge, Weltgericht und tausendjähriges Reich.
Der ideelle Zusammenhang dieser Plastik mit den geistlichen Schauspielen
darf nicht übersehen werden. Die Gegenstände decken sich im Ganzen; auch die
kolossale, Wochen in Anspruch nehmende Ausdehnung namentlich der englischen
Passions-, Oster- und Weihnachtsspiele mit ihrer Unzahl von Acteuren erinnert
an die zahllosen Statuen der Portale wie nicht minder an die riesigen Dimensionen
der Encyklopädie des Vincentius.1 Wie in der bildenden Kunst treten in den
Mysterien zu den Ereignissen des Lebens Christi die vorher verkündenden Pro-
pheten und Sibyllen, die vordeutenden und typologischen Begebenheiten des alten
Testamentes hinzu. Besonders in den »Moralitäten« finden wir dann die Scharen
der Tugenden, auch durch historische Exempel, wie in Giusto's Fresken, erläutert,2
die Allegorien des Glücksrades, des Zeitrades, des Dit von den drei Todten und
drei Lebendigen, des Lebensbaumes, endlich historisch-moralische Stoffe, wie die
»Milde des Trajan« u. a., alle gleichmässig der Literatur wie der bildenden Kunst
angehörend.
Wichtiger ist vielleicht der formelle Zusammenhang. Man hat darüber gestritten, ob die gothi-
schen Portalsculpturen von den Mysterien beeinflusst seien oder umgekehrt. Ich glaube aber nicht,
dass dies die richtige Fassung des Problems ist. Neben einander hinlaufend, ha-
ben dramatische und bildende Kunst vielfache Berührungspunkte mit einander
gemein; beide, tief im Leben des Volkes wurzelnd, sind gegenseitigen Einwirkungen
leicht zugänglich gewesen. Gewiss sind Genre- und possenhafte Züge aus den
Schauspielen in die bildende Kunst gedrungen; umgekehrt zeigt die Form der
Mysterienbühne mit ihren drei Stockwerken: Paradies, Erde und Unterwelt über
einander das charakteristische Gepräge der architektonisch gegliederten Bilder-
composition der Gothik. Wenn auf der Bühne zu höchst Gott Vater sass, in der
Mitte das irdische Paradies sich aufthat und unten Satan über das Verderben der
ersten Menschen rathschlagte, so war man dies Nebeneinander und Untereinander
schon von der gleichzeitigen Plastik, vor Allem von den Kirchenthoren her ge-
wohnt. Dort wie hier schreitet der Geist des Beschauers in Wahrheit:
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus
Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.
In Italien bekommt diese encyklopädische Kunst, der Selbstständigkeit des
Landes entsprechend, ein ganz anderes Aussehen. Auch Dante's Lehrer, Bru-
netto Latini, hat eine Encyklopädie: »Li livres dou Tresor«3 (vollendet 1284)
geschrieben, in der damals auch in Italien üblichen Schriftsprache, dem Nord-
französischen, woraus hervorgeht, dass das Werk in erster Linie für die gebildete
Laienwelt bestimmt war. Aber für Italien, speciell für Toscana, sind die encyklo-
pädischen Lehrgedichte charakteristisch, die in ihrer Sphäre genau dasselbe zu
leisten unternehmen, was die bildende Kunst in den grossen scholastischen Cyklen
Fig. 7. Die Dialektik (?)
darunter der Skio-
pode.
(Nach Viollet-Ie-Duc.)
1 Das »Speculum historiale« (in der Ausgabe der Benedictiner von Douay der IV. Band) enthält nicht weniger als
2668 Columnen in ziemlich engem Druck.
2 In dem französischen Mysterium des heil. Fiacrius wird Judas durch die Desperado erhenkt. Creizenach, Geschichte
des neueren Dramas, Halle 1893, Bd. I, S. 458.
3 Ausgabe von Chabaille in den »Documents inedits etc.«,Ser. I, Paris iS63. AltitalienischeUebersetzung von Bono Giamboni.
Julius von Schlosser.
Die geistlichen
Schauspiele.
Italien.
Die
Encyclopädien
des
Brunctto Latini.
Fig. 6. Die Medicin.
Kathedrale von Laon.
(Nach Viollet-Ie-Duc.)
Anzahl von Figuren (nach Didron's Zählung 1488 Statuen!) ist hier die ganze Geschichte (natürlich
nur die biblische) von der Erschaffung Adams an durch die Zeit ante legem und ante gratiam bis zum
Anbruche der gnadenreichen Zeit der Erlösung (sub gratia) abgehandelt, welch"
letztere durch das Leben Christi und Maria sowie durch die Heiligen dargestellt
ist. Den Schluss machen die letzten Dinge, Weltgericht und tausendjähriges Reich.
Der ideelle Zusammenhang dieser Plastik mit den geistlichen Schauspielen
darf nicht übersehen werden. Die Gegenstände decken sich im Ganzen; auch die
kolossale, Wochen in Anspruch nehmende Ausdehnung namentlich der englischen
Passions-, Oster- und Weihnachtsspiele mit ihrer Unzahl von Acteuren erinnert
an die zahllosen Statuen der Portale wie nicht minder an die riesigen Dimensionen
der Encyklopädie des Vincentius.1 Wie in der bildenden Kunst treten in den
Mysterien zu den Ereignissen des Lebens Christi die vorher verkündenden Pro-
pheten und Sibyllen, die vordeutenden und typologischen Begebenheiten des alten
Testamentes hinzu. Besonders in den »Moralitäten« finden wir dann die Scharen
der Tugenden, auch durch historische Exempel, wie in Giusto's Fresken, erläutert,2
die Allegorien des Glücksrades, des Zeitrades, des Dit von den drei Todten und
drei Lebendigen, des Lebensbaumes, endlich historisch-moralische Stoffe, wie die
»Milde des Trajan« u. a., alle gleichmässig der Literatur wie der bildenden Kunst
angehörend.
Wichtiger ist vielleicht der formelle Zusammenhang. Man hat darüber gestritten, ob die gothi-
schen Portalsculpturen von den Mysterien beeinflusst seien oder umgekehrt. Ich glaube aber nicht,
dass dies die richtige Fassung des Problems ist. Neben einander hinlaufend, ha-
ben dramatische und bildende Kunst vielfache Berührungspunkte mit einander
gemein; beide, tief im Leben des Volkes wurzelnd, sind gegenseitigen Einwirkungen
leicht zugänglich gewesen. Gewiss sind Genre- und possenhafte Züge aus den
Schauspielen in die bildende Kunst gedrungen; umgekehrt zeigt die Form der
Mysterienbühne mit ihren drei Stockwerken: Paradies, Erde und Unterwelt über
einander das charakteristische Gepräge der architektonisch gegliederten Bilder-
composition der Gothik. Wenn auf der Bühne zu höchst Gott Vater sass, in der
Mitte das irdische Paradies sich aufthat und unten Satan über das Verderben der
ersten Menschen rathschlagte, so war man dies Nebeneinander und Untereinander
schon von der gleichzeitigen Plastik, vor Allem von den Kirchenthoren her ge-
wohnt. Dort wie hier schreitet der Geist des Beschauers in Wahrheit:
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus
Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.
In Italien bekommt diese encyklopädische Kunst, der Selbstständigkeit des
Landes entsprechend, ein ganz anderes Aussehen. Auch Dante's Lehrer, Bru-
netto Latini, hat eine Encyklopädie: »Li livres dou Tresor«3 (vollendet 1284)
geschrieben, in der damals auch in Italien üblichen Schriftsprache, dem Nord-
französischen, woraus hervorgeht, dass das Werk in erster Linie für die gebildete
Laienwelt bestimmt war. Aber für Italien, speciell für Toscana, sind die encyklo-
pädischen Lehrgedichte charakteristisch, die in ihrer Sphäre genau dasselbe zu
leisten unternehmen, was die bildende Kunst in den grossen scholastischen Cyklen
Fig. 7. Die Dialektik (?)
darunter der Skio-
pode.
(Nach Viollet-Ie-Duc.)
1 Das »Speculum historiale« (in der Ausgabe der Benedictiner von Douay der IV. Band) enthält nicht weniger als
2668 Columnen in ziemlich engem Druck.
2 In dem französischen Mysterium des heil. Fiacrius wird Judas durch die Desperado erhenkt. Creizenach, Geschichte
des neueren Dramas, Halle 1893, Bd. I, S. 458.
3 Ausgabe von Chabaille in den »Documents inedits etc.«,Ser. I, Paris iS63. AltitalienischeUebersetzung von Bono Giamboni.