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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

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I. Theil: Abhandlungen
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Kallab, Wolfgang: Die toskanische Landschaftsmalerei im XIV. und XV. Jahrhundert, ihre Entstehung und Entwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0090
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Die toscanische Landschaftsmalerei im XIV. und XV. Jahrhundert, ihre Entstehung und Entwicklung.

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Aeste baumeln über dem Abgrund und lassen den Wind mit sich spielen. Auch kleine Gäste haben
sich angesiedelt; aus allen Ritzen, in denen nur eine Flocke Erde Fuss fassen kann, spriessen
die wilden Blumen und eine Lilie streckt einen Bund ihrer geraden Schösslinge, der mit grossen
weissen Knospen und Glocken besäet ist, über den kahlen Fels. So hat die Natur dem heiligen Büsser,
der da vorne in inbrünstigem Gebete vor dem ungefügen, selbstgefertigten Kreuze kniet, den ein-
samen Ort geschmückt; um ihn her blüht und sprosst es. An der Felswildnis vorbei eröffnet sich ihm ein
lieblicher Blick. Durch Wiesengrund zieht lautlos ein Bach, in seinen glatten Fluthen spiegelt sich des
Himmels Helle; die ernsten Gestalten hoher Bäume neigen ihre Aeste zu ihm herab. Lange kann man
ihn verfolgen in seinen Windungen, bis tief im Grunde ein Hügel mit einem Wartthurme die Sicht
abschliesst.

Das Bild ist unvollendet; einzelne Partien, wie das Gewand, sind grob hingestrichen, während
die Landschaft in allen Einzelheiten mit liebevoller Hand ausgeführt ist. Nur die letzten Lasuren
fehlen. So klein und geringfügig ihre Motive sind, mir will sie als das schönste Werk des frühverstor-
benen Meisters erscheinen. Es ist wahr, er findet auch auf den Landschaften, wo er eine breite Fülle
von Motiven auseinanderlegt, wie der »Anbetung der Könige« oder dem Bilde in München, zu liebe-
voller Beobachtung und Ausgestaltung Gelegenheit; aber nirgends hat er jeden Winkel, jedes Fleckchen
einer Landschaft mit so einheitlicher Stimmung durchtränken können als auf seinem »Hieronymus«.

Filippinos Landschaften belegen am besten die Wendung zur »paysage intime«. Künstler, die
in der Schule der Naturalisten gross geworden waren und nach ihren Vorbildern gearbeitet hatten, wie
Ghirlandajo und Botticelli, verlassen die topographische Landschaftsdarstellung und suchen schlichte
Motive auf, in denen sich ein Stück Natur, unberührt von Menschenhänden und fern von den lauten
Stätten des täglichen Verkehrs, entfaltet.

Wir haben schon oben erörtert, wie sich der nüchterne Ghirlandajo zu der Landschaft stellt. Als
ein Beispiel der Art, wie er Altes und Neues, Ueberliefertes und Selbstgeschautes zusammencomponirt,
rücke ich die Beschreibung der Landschaft ein, die sich auf der »Stigmatisation des heil. Franciscus«
(Florenz, Santa Trinitä, Capeila Sassetti) findet. Der Heilige kniet auf einem öden Hügel, der sich
im Mittelgrunde zu einem Passe herabsenkt und nach allen Richtungen freien Ausblick gewährt. Jen-
seits des Passes ragt ein schier unersteigliches Felsenmassiv auf, zu dessen begrüntem und besiedeltem
Gipfel nur ein schmaler Steig hinaufführt. Dieser Berg, der aus Piero di Cosimos Landschaften in der
Sixtinischen Capelle entlehnt ist, reisst die Landschaft in zwei disparate Theile auseinander. Links ein
freundlicher Wiesengrund, den ein Bach durchströmt und den wenige Wege durchkreuzen, mit ein paar
weissen Häusern in der grünen Einsamkeit; rechts eine breite Niederung, durch deren Sandbodensich
ein Fluss in langen Windungen wälzt, von den steilen Ausläufern jenes centralen Gebirgsstockes weiter
nach rechts in die Ferne gedrängt. Nahe dem Vordergrunde, der ihn überschneidet und deckt, durch-
queren ihn Reiter, eine Furth benützend; jenseits einer stattlichen befestigten Stadt weitet er sich zu
einem See, den Schiffe befahren; Berge schliessen die Sicht.

Nur diese rechte Hälfte, welche das geläufige Motiv des Flussthaies variirt, ist Ghirlandajos geisti-
ges Eigenthum. Der Wiesengrund, das Dorf im Grünen auf der Kuppe des mittleren Berges sind Piero
di Cosimo nachempfunden.

Botticellis Landschaften sind kunstlos;1 nur sein feiner Sinn für landschaftliche Wirkung, der
Tact, den er in der Einführung der an sich dürftigen Motive bewährt, reihen ihn den Pflegern der
»paysage intime« an. Mitten zwischen die Hauptgestalten, zwischen denen der Blick hin- und her-
schweift, setzt er ein Stückchen Landschaft, ein wenig Wiesengrund mit einem Bache, seltener ein paar
Bäume, so dass man gezwungen ist, auf sie zu achten (»Madonna Magnificat«, Uffizien; »Verkündigung«,
ebenda). Oder er führt den Horizont hoch über den Köpfen der Gestalten (»Anbetung der Könige«,
Petersburg, Eremitage, und London, National Gallery) und lässt hinter den Architekturen ein Stückchen
Ferne auftauchen (»Anbetung der Könige«, Uffizien) zum Zeichen, dass er sich seine Gestalten unter

1 Vgl. das abfällige Unheil Leonardos in dem Buch der Malerei (ed. Ludwig) II, Nr. 60, p. 116.
 
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