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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

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I. Theil: Abhandlungen
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Kallab, Wolfgang: Die toskanische Landschaftsmalerei im XIV. und XV. Jahrhundert, ihre Entstehung und Entwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0092
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Die toscanische Landschaftsmalerei im XIV. und XV. Jahrhundert, ihre Entstehung und Entwicklung.

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Kindern und dem Engel kniet, schliesst ein Felsthor mit zwei Oeffnungen ab. Ueber die linke breitet
sich ein Vorhang von Stalagmiten; die rechte ist mit Felsblöcken verkeilt, die in sie herabgestürzt sind.
Gras und überhängendes Gestrüpp verkleiden den Bau. Durch das linke Thor blickt eine ferne Land-
schaft herein. Zwischen Felskegeln windet sich ein Fluss. Die weitesten sind beleuchtet und das Licht,
das in das Thal hereinspielt, erhellt den Horizont und lässt die Felsen an der vordersten Flusskrümmung
als dunkle Silhouetten scharf gegen die lichte Ferne hervortreten. Der blumige Wiesenwinkel erscheint
dadurch noch schattiger, noch lauschiger, noch heimlicher.

Ganz anders auf der »Mona Lisa«. Ueber eine weite Felswirrnis, deren wilde, zerrissene Kämme
schattenhaft durch den grauen Dunst aufstreben, gleitet ruhelos der Blick zu den Mauern des riesen-
haften Gebirges, das sich am Horizont aufthürmt.
Wie eine ferne Welt in vollem Sonnenglanze liegt
es auf der »Madonna mit der heil. Anna« da, von
den beschatteten Hügeln des Vordergrundes durch
eine weite Kluft geschieden. Gleich Visionen eines
fremden wunderbaren Landes, fast schreckhaft auf
der »Mona Lisa«, dann wieder majestätisch auf der
Pariser »Madonna« erscheinen diese Landschaften.

Leonardo ist der erste Theoretiker der Land-
schaftsmalerei. Der sechste, siebente und achte
Theil des Malerbuches, die über die Bäume und
die grünen Gewächse, über die Wolken und über
den Horizont handeln, sind ihr ausschliesslich ge-
widmet. Zahllose Andeutungen, Rathschläge und
Beobachtungen über dieses Gebiet sind durch das
ganze Werk verstreut, so dass es einer eigenen
Arbeit bedürfte, sie zu sammeln und unter ein-
heitliche Gesichtspunkte zu stellen. Nur wenige
Bemerkungen will ich daher hier anfügen.

Leonardo ist Künstler und Naturforscher und
strebt nach Naturerkenntnis auf wissenschaftlichem
Wege und nach wissenschaftlicher Methode. So enthält sein Werk neben Anweisungen, die unmittel-
bar in die handwerkliche Praxis eingreifen, neben theoretischen Entdeckungen, wie der Festsetzung
des Verhältnisses harmonischer Grössenabnahme bei der perspectivischen Verkürzung, eine Menge von
Untersuchungen und Beobachtungen, die nicht unmittelbar in den Bereich des Malers gehören. So
wird in dem Abschnitt »de Ii alberi et verdure« eine Morphologie der Bäume abgehandelt und das
Capitel »delli nuvoli« ist voll von physikalischen Bemerkungen. Leonardo verlangt von seinem Maler
das volle Verständnis der Naturerscheinung, die er darstellt, und tadelt diejenigen heftig, die ihr
Naturstudium dem Gelderwerb zuliebe beschränken.1 Die Weite seines Gesichtskreises befähigt ihn
aber auch, das ganze Gebiet der Malerei theoretisch zu umfassen. Er hat zum ersten Male eine aus-
geführte Schattenconstructionslehre geliefert und erschöpfend über Reflexe und Glanz gehandelt.2 Er
begnügte sich nicht mit der Bestimmung der Gesetze und der Analyse der allgemeinen Fälle sondern
er fügt seinem Buche über Licht und Schatten einen angewandten Theil über die Schattendunkelheiten

Fig. 50. Piero di Cosimo,
Landschaft aus der »Conception«. Florenz, Uffizien.
(Nach Photographie von Alinari.)

zonte ist schwach, die Luft über dem Felsthore fehlt. Von der Plastik des Mittelgrundmotivs und besonders der rechten
Ecke, die sich auf dem Pariser Bilde gut abheben, hier keine Spur. Das Louvre-Exemplar hat die Feinheit der Luftper-
spective, grössere Tiefe und Entfernung der Ferne, in allen Einzelheiten (Grasbüschel, Blumen) grössere Lebendigkeit voraus.
Diese an sich geringfügigen Abweichungen werden kaum als Vorzüge des Londoner Bildes ausgedeutet werden können.

' Lionardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, herausg. und übersetzt von H. Ludwig, 2 Bände. II, S. 248 f., Nr. 834 a.

2 Ebenda, II, Parte quinta: de ombra e lume, Nr. 545—770; de lustro (II, p. 176 f.), Nr. 771—779; de reflessi (II,
p. 184 f.), Nr. 780—790.
 
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