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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

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I. Theil: Abhandlungen
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Graeven, Hans: Typen der Wiener Genesis auf byzantinischen Elfenbein-Reliefs
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https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0097
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92

Hans Graeven.

Die einzige neutestamentliche Bilderhandschrift aus frühchristlicher Zeit ist der Codex Rossa-
nensis,1 der mit der Wiener Genesis ausserordentlich nahe verwandt ist. Gleich ihr ist der Rossanensis
auf Purpurpergament mit Silberschrift geschrieben und seine Miniaturen zeigen in der Technik und
in den Details eine grosse Aehnlichkeit mit jenen; doch besteht ein wesentlicher Unterschied. Die
Miniaturen des Rossanensis finden sich nicht auf den Textblättern und sie bilden nicht wie in den alt-
testamentlichen Büchern eine continuirliche Illustration des Textes. Der Grund dieser Differenz ist
leicht zu entdecken. Hätte der Maler die Evangelien in derselben Weise wie die Genesis mit Illustra-
tionen begleiten wollen, so hätte er viele Gegenstände drei- oder viermal darstellen müssen, da sich in
den einzelnen Evangelien dieselben Erzählungen mit geringen Varianten wiederholen. Um die Wieder-
holung der Bilder zu vermeiden, scheint der Ausweg erfunden zu sein, eine Reihe von Miniaturen an
die Spitze des Textes zu stellen. Dies lag um so näher, als man gewohnt war, den Evangelien die
Canones voranzuschicken und diese in verzierten Bogen unterzubringen. Der Rossanensis, der das

sie nicht von Miniaturmalern zur Buchillustration geschaffen sind. Es ist das Verdienst des neuen
Herausgebers des Rossanensis, nachgewiesen zu haben, dass die Parallelen für diese Miniaturen nicht
sowohl in frühchristlichen Werken als vielmehr in byzantinischen Monumenten zu finden sind. Viele
der Compositionen im Rossanensis bilden gleichsam eine Vorstufe zu denen, die später in der byzan-
tinischen Kunst üblich wurden; aber es lässt sich in keinem Falle eine directe Nachahmung der Typen des
Rossanensis aufzeigen. Anders liegt die Sache bei den frühchristlichen Miniaturen zum alten Testament.

Vor zehn Jahren hat Tikkanen in seinem gehaltvollen Buche über die Genesismosaiken von San
Marco2 die Thatsache aufgedeckt, dass der venezianische Mosaikarbeiter des XIII. Jahrhunderts in
jenem Bildercyklus dieselben Typen wiedergegeben hat, welche die Cottonbibel enthält. Zugleich hat
Tikkanen darauf hingewiesen, dass den Illustrationen des Buches Josua in den vaticanischen Okta-
teuchen3 die Typen des Rotulus als Vorlage gedient haben und dass manche Einzeltypen des Rotulus
anderwärts nachgebildet sind, z.B. im Menologium des Basilius,4 im Pariser Gregor,5 auf der Bronze-

1 Umrisszeichnungen seiner Bilder wurden bekannt gemacht von Gebhardt und Harnack, Evangeliorum codex purpureus
Rossanensis, Leipzig 1880; eine mechanische Reproduction erfolgte durch Haseloff, Codex purpureus Rossanensis, Berlin 1898.

2 Vgl. oben, S. 91, Anm. 3, am Schluss.

3 Codd. Vat. Graeci 746, 747. Vgl. L'Arte, giä archivio storico dell' arte I (1898), p. 221 ff. Zu den beiden vaticanischen
Oktateuchen treten ergänzend hinzu einer auf dem Athos, im Kloster Watopädi, und einer in der Bibliothek der evangelischen
Schule in Smyrna; vgl. Brockhaus, Die Kunst in den Athosklöstern, S. 212 ff.; Strzygowski, Der Bilderkreis des griechischen
Physiologus, Leipzig 1899, S. Ii3ff. Die Vorlage der Oktateuche war vollständiger als der erhaltene Rotulus, jener fehlten nur
einige wenige Bilder am Schluss. So können wir mit Hilfe der Oktateuche verlorene Compositionen des Rotulus reconstruiren.

4 Vat. Graec. 1613. Die Hälfte seiner Illustrationen ist reproducirt: Menologium Graecorum iussu Basilii, prodit studio
et opera Annibalis Card. Albani, Urbini 1727. Abbildung der mit dem Josuarotulus zusammenhängenden Miniatur unten
Fig. II.

5 Par. Graec. 510, fol. 226'; vgl. Bordier, Description des peintures et autres ornements contenus dans les Mss. Grecs
de la Bibliotheque Nationale, p. 76.

Fig. I, Elfenbeinrelief in Dresden.

Matthäusevangelium vollständig und einen
Theil des Marcusevangeliums umfasst, bietet
vor dem Text vierzehn Miniaturen, die alle-
sammt Scenen aus der letzten Lebenszeit
des Herrn darstellen. Wahrscheinlich gehörte
mit dem Rossanensis ein zweiter Codex zu-
sammen, der die Evangelien des Lucas und
Johannes enthielt und ihnen vorangehend
Bilder aus der Vorgeschichte und der Jugend
des Herrn. Auch der Bilderkreis des Rossa-
nensis selbst war ursprünglich grösser als
jetzt. Die erhaltenen Miniaturen verrathen
durch Stil und Auffassung, dass sie abhängig
sind von Werken der grossen Kunst, dass
 
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