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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 21.1900

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I. Theil: Abhandlungen
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Graeven, Hans: Typen der Wiener Genesis auf byzantinischen Elfenbein-Reliefs
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https://doi.org/10.11588/diglit.5733#0099
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Hans Graeven.

Wie der erste Theil der Miniatur zeigt auch das Dresdener Relief links einen sitzenden Alten,
vor seinem Stuhl einen Knaben, den ein Jüngling küsst; mit unbedingter Sicherheit darf das Relief
daher als Abschied Josefs von Jakob und Benjamin gedeutet werden. Zu der eigenartigen Gestaltung
der Abschiedsscene bot der biblische Text keinen Anhalt. Er erzählt mit dürren Worten, dass Jakob
dem Sohne den Auftrag ertheilt, nach Sichern zu gehen, nach den Brüdern und dem Vieh zu sehen
und darüber zu berichten. Benjamins wird bei dieser Gelegenheit nicht Erwähnung gethan, geschweige
denn der Mutter; denn kurz zuvor (35, ig) ist der Tod Raheis erzählt. Trotzdem lassen auch andere
Bildwerke, die von der Wiener Genesis unabhängig sind, wie eine Miniatur des Pariser Gregor,1 Rahel
beim Auszug Josefs gegenwärtig sein und wieder andere fügen Benjamin in die Scene ein. Dies ist
z. B. der Fall in den erwähnten Oktateuchen, aus deren einem wir die betreffende Illustration reprodu-
ciren (Fig. 3). Die Situation ist hier eine wesentlich andere als in dem Genesisbilde und dem Relief:
Josef sowohl wie Benjamin kehren ihr Antlitz dem Vater zu und lauschen seinen Worten. Das zärt-
liche Abschiednehmen ist eine Eigenthümlichkeit jener beiden Werke. Im besten Einklang mit dieser

Darstellung steht die zweite Scene des

Genesisbildes, die gleichfalls die Liebe
Josefs und Benjamins zu einander be-
tont. Beide Scenen sind ein Ausfluss des
stark ausgeprägten Sinnes für das Fa-
milienleben, den der Künstler noch in
anderen Bildern der Genesis bekundet,
z. B. gleich auf demjenigen Blatte, das
jetzt dem unsrigen unmittelbar folgt und
die Erzählung von Potiphars Verfüh-
rungsversuch illustrirt. Auch diese Mi-
niatur ist in zwei Streifen gegliedert: die
Hauptpersonen, das buhlerische Weib
und der keusche Jüngling, nehmen nur
die Hälfte des oberen Streifens ein. Der

Fig. 3. Miniatur des Vat. Graec. 746. ganze ubrige Raum ist verwandt zur Dar-

stellung von Potiphars Familie. Ausser
einigen mit Handarbeit beschäftigten Mägden sehen wir eine Frau, die ein kleines Kind auf dem
Arme trägt und es küsst; ein zweites Kind liegt in der Wiege und seine Wärterin hält ihm eine Rassel
vor; ein drittes, etwas grösseres Kind lehnt sich an den Schooss einer sitzenden spinnenden Magd und
schaut zu ihrem Spinnrocken auf. Wir verstehen es, wie ein Künstler, der solche Details anbrachte,
dazu gekommen ist, den Abschied Josefs so zärtlich zu schildern. Dass zwei Künstler unabhängig von
einander denselben Gedanken gehabt hätten, unabhängig von einander zwei so übereinstimmende
Compositionen hätten schaffen können wie die Wiener Miniatur und das Dresdener Relief, ist un-
denkbar.

Der Uebereinstimmung der beiden Bildwerke gegenüber sind die Abweichungen nicht von Be-
lang. Die Figur der Rahel ist im Relief fortgelassen aus Rücksicht auf die Enge des Raumes, die Figur
Jakobs ist von der Gruppe der Söhne ein wenig abgerückt und seine Rechte ist, statt die Wange Josefs
zu berühren, im Redegestus erhoben, um eine in der Sculptur lästige Ueberschneidung zu vermeiden.
Abgesehen von dieser Differenz, steht gerade die Figur Jakobs im Relief der des Miniaturbildes beson-
ders nahe. Beiderwärts ist die Haltung gleich, der rechte Fuss vorgesetzt, die Linke auf dem Schoosse
ruhend, der Oberkörper vorgestreckt; die Kleidung: Sandalen, Tunica, Pallium, ist hier und dort die-
selbe und die Köpfe mit langem Barte und welligen, auf die Schultern fallenden Haaren sind einander

1 Fol. 69'; vgl. Bordier, a. a. O., p. 70: Jacob envoyant Joseph ä ses freres. II est assis Sur le seuil de sa maison;
Rachel en robe 6carlate debout ä cöte' de lui; Joseph en petite tunique grise bordee de violet au col et en bas.
 
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