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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

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I. Theil: Abhandlungen
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Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0102
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Alois Riegl.

Figuren ist weit verwandter mit orientalischer Indolenz als mit nordischer Gemüthstiefe. Einen
Künstler allerdings hat Venedig hervorgebracht, dem es verliehen schien, die Existenzmalerei bis zu
gewissem Grade zu einer Stimmungsmalerei zu verklären: Giorgione; aber so jung dieser Meister ver-
storben ist, hat er nach der gedachten Richtung nichts mehr zu thun hinterlassen, da seine Landsleute
doch kein tieferes Verständnis dafür besessen hätten. Sein Nachfolger im Primat der venezianischen

Malerei, Tizian, hat sofort das Gefühl in der uns
heute als falsch anmuthenden Auffassung des
barocken Scheinconflictes mit dem Willen in
die venezianische Malerei gebracht und damit
den Anschluss an die gemeinitalienische Barock-
kunst gefunden.

Dass eine Existenzmalerei der Ausbildung
des Einzelporträts überaus förderlich sein musste,
liegt auf der Hand und zahllose Werke nament-
lich Tizians und Tintorettos liefern Zeugnis da-
für. Aber es ist nicht ein Kopf darunter, den
wir nach nordischen Begriffen gemüthsvoll nen-
nen möchten, und in den seltenen Fällen, wo
der Maler sich bemüht hatte, den seelischen Cha-
rakter zu vertiefen, wird durch die von uns als
schneidender Contrast empfundene Beimischung
eines isolierenden Elementes eher das Gegen-
theil von Stimmung erreicht.1 Die veneziani-
schen Porträtköpfe suchen zwar den Beschauer
nicht zu unterjochen, verkünden aber ihre selbst-
herrliche Erhabenheit über ihn. Man pflegt heute
vielfach fälschlich Individualismus mit Egoismus
zu verwechseln; in der Auffassung dieser alten
Venezianer fielen beide Begriffe in der That zu-
sammen.

Mehr als ein unleugbarer Anlauf zur
Stimmungskunst war es also nicht, was wir in
der venezianischen Malerei des XVI. Jahrhun-
derts beobachten können. Er war trotz Gior-
giones Concert nicht einmal stark genug, um zu
einer ausgesprochenen Genremalerei zu führen;
aber er genügte, um wenigstens eine Vorstufe
zur Gruppenporträtmalerei zu erreichen. Es be-
gegnet zu Venedig in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts ein wirkliches Corporationsporträt und
die darin begründete Analogie mit den niederländischen Verhältnissen gelangt noch zu weiterem be-
achtenswerthen Ausdrucke, indem die sociale Ordnung in der Kaufmannsrepublik an der Adria eben-
falls bürgerliche Corporationen hervorgebracht hat. Aber diese Confraternitäten — die sogenannten
Scuole — bezweckten nicht eine gemeinsame Thätigkeit zum Wohle der gesammten Bürgerschaft sondern
trugen einen geistlichen Charakter wie jene Johanniter und Jerusalemfahrer von Haarlem und Utrecht.
Nicht so sehr die Unterordnung unter einen gemeinsamen Zweck, von dessen Realisierung der Einzelne
vielleicht gar nichts profitierte als die Erlangung der ewigen Seligkeit, die Jeder gewissermassen nur sich

Fig. Ii. Domenico Tintoretto. Achtzehn Confratelli der Scuola
dei Mercanti in Venedig.
K. k. Akademie der bildenden Künste zu Wien.

1 Als Typus dafür möchte vielleicht jenes »Porträt eines Herrn« von der Auction Doetsch in London gelten, das
Berenson, Italienische Kunst, S. 114 ff. (mit Abbildung), als Copie nach Giorgione erklärt hat.
 
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