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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

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I. Theil: Abhandlungen
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Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0151
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Das holländische Gruppenporträt.

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Individualisierung der Aufmerksamkeit. Beides aber — sowohl die verbindenden Diagonalen der Com-
Position als auch die nicht minder verbindenden Gefühle der Auffassung — hat erst die zweite Periode
zur vollen Entfaltung des Wirkens gebracht.

Die religiöse Historienmalerei des Mittelalters hatte die Aufgabe gehabt, mit der Darstellung der Das Aufkommen
Geschichte Christi, in zweiter Linie der Schicksale der Heiligen die objective sittliche Norm zu ver- ™^ Genre-
sinnlichen, durch deren Befolgung der einzelne Mensch die Erlösung zu finden hoffen durfte. Die massigen in der

' b b o holländischen

grosse Wandlung des XVI. Jahrhunderts bestand darin, dass die Triebfedern zur erlösenden Sittlich- Kun8t.
keit nun in das einzelne Subject selbst verlegt wurden: die Erlösung sollte nicht mehr als ein Geschenk
von aussen her erscheinen sondern der subjective innere Seelenfrieden, errungen durch selbstloses Ver-
halten der Mitwelt gegenüber, sollte die Belohnung, die Seelenqual ob des Gegentheils die Strafe sein.
Bei den katholisch verbliebenen Völkern, zu denen namentlich die Romanen zählten, kam es darüber
zu einem neuerlichen Dualismus, in dem zwar ängstlich die bisherige äussere Norm mit allen ihren
Consequenzen festgehalten, daneben aber dem subjectiven Empfinden doch ein bestimmter Geltungs-
raum zugestanden wurde. Auf künstlerischem Gebiete entspricht diesen neuen Verhältnissen ein Dua-
lismus von Cultuskunst und profaner Kunst, wie er namentlich bei den Italienern und Flamen be-
gegnet. Hingegen verfuhren die protestantischen, der Rasse nach überwiegend germanischen Völker
weit einseitiger und rücksichtsloser, indem sie die Norm ausschliesslich in das einzelne Subject selbst
verlegten; es blieb zwar der oberste Begriff eines Sittengesetzgebers bestehen aber dieser sprach nicht
mehr durch Mittler zum einzelnen Menschen sondern wandte sich unmittelbar an diesen. Die natur-
gemässe Folge davon war die Beseitigung jeder Cultuskunst, die dem Subject nur als ein fremdes Ob-
jectives entgegentreten kann, und ihre Ersetzung durch eine profane Kunst, die das subjective Erleben
des Einzelnen zur Darstellung zu bringen hatte.

Dieser Umschwung in den protestantisch-germanischen Ländern gelangte eben in den Jahren,
mit welchen die betrachtete erste Periode der holländischen Gruppenporträtmalerei abschliesst, in jenes
Stadium gewaltsamer Krisis, das wir als Bildersturm zu bezeichnen pflegen. Es handelte sich dabei um
nichts Anderes als um die gewaltsame Beseitigung der Cultuskunst. Man war zwar selbst in Holland
weit davon entfernt, auf die ererbten Darstellungen der heiligen Geschichten ein- für allemale zu ver-
zichten, aber die Auffassung, die aus diesen religiösen Bildern holländischer Maler nach dem Bilder-
sturme spricht, ist in zunehmendem Maasse von der Tendenz geleitet, die Scenen eben mehr als persön-
liche Erlebnisse des Beschauers denn als fremde objective Geschehnisse zu charakterisieren. Es braucht
hiefür nur auf die bezüglichen Werke Rembrandts hingewiesen zu werden, die durchaus gewöhnliche,
irdische Begebenheiten schildern, wie sie einem Jeden im täglichen Leben passieren konnten, die aber
durch die darin geschilderte selbstlose Hingabe der an der Handlung Betheiligten in die Sphäre des
Ewigen und Göttlichen erhoben erscheinen. Diese Art der Behandlung grosser historischer Begeben-
heiten in der bildenden Kunst nennen wir aber die genremässige.

Das Charakteristische der Genremalerei bildet nicht so sehr die äussere Bedeutungslosigkeit des
dargestellten Vorganges als die zwingende Notwendigkeit, mit der er sich vor dem Beschauer voll-
zieht. In den Anfängen der Genremalerei glaubten die Künstler (wie dies immer beim Aufkommen
neuer Kunstabsichten zu beobachten ist), den Beschauer auf jene Nothwendigkeit noch besonders auf-
merksam machen zu müssen, und sie wählten darum Themen, die zwar nicht mehr von historischer
Bedeutsamkeit aber doch so auffallend waren, dass der Beschauer sich unwillkürlich fragen musste,
warum denn überhaupt derlei nachgebildet wurde, und sich auch die Antwort darauf aus der unwider-
stehlichen Nothwendigkeit, mit der das Ungewöhnliche dargestellt war, ableiten konnte. Auf solche
Weise erklärt sich die Bauernmalerei des alten Breughel: die Tölpeleien der Landleute waren für den
Städter etwas Ueberflüssiges und Anstössiges und darum Ungewöhnliches; indem aber Breughel diese
Bauern derart zu schildern wusste, dass der Beschauer den unvermeidlichen Eindruck bekam, diese
Leute könnten sich eben nur so und nicht anders benehmen, wurde für ihn das Anstössige und Unge-
wöhnliche zum Stimmenden und Klaren und vermittelte ihm jene erlösende Wirkung, die der Beschauer
vom Kunstwerk verlangt. So erhob die Genremalerei das Alltägliche zum Ewigen, während die frü-

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