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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

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I. Theil: Abhandlungen
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Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0155
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Das holländische Gruppenporträt.

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der Niederlande erhalten geblieben ist. An Stelle des religiösen Charakters trat jetzt im Norden der
militärische; das Bleibende im Wechsel war die bürgerliche Grundlage. Die alten Schützengilden wur-
den nun -militärisch organisierte Schützencompagnien, d. h. eine Art Bürgermiliz, die in erster Linie
dem Schutze der Stadt zu dienen hatte aber in einzelnen Fällen auch ins Feld ausrücken musste. Diese
Compagnien wurden wie ehedem die Schützengilden von freien, gleichberechtigten Bürgern gebildet,
die aus freiem Antriebe sich für die Erreichung gewisser gemeinschaftlicher Zwecke zu einer Corpora-
tion verbanden. Aber der militärische Zweck, der namentlich bis zum Abschlüsse des westphälischen
Friedens seine ständige actuelle Bedeutung hatte, erforderte zwingend ein grösseres Maass an Subordi-
nation. Deshalb sind wir von nun an vor den Schützenstücken fast nie mehr im Zweifel, wen wir für den
Commandanten anzusehen haben: Capitän, Lieutenant und Fahnenjunker sind die drei Chargen, die
fast ausnahmslos mit aller wünschenswerthen Deutlichkeit gekennzeichnet erscheinen. Damit haben
w'r bereits die Nennung einer entscheidenden Neuerung in der Gruppenporträtmalerei vorweggenom-
men: die im Grunde antik-italienische Subordination, die zur nordischen Coordination einen Gegen-
satz bildet und die darum im ältesten Gruppenporträt von 152g—1566 trotz öfterer Anläufe immer
wieder zurückgedrängt worden war, dringt nun in der neuen Periode nach 1580 im Principe
durch. Nur hüte man sich vor der Meinung, dass diese Neuerung durch die erwähnte militärische
Umgestaltung des Schützenwesens herbeigeführt worden ist: beide sind vielmehr parallele Wir-
kungserscheinungen einer und derselben oberen Triebkraft, die den Holländern jener Zeit auf allen
Gebieten des Lebens, des socialen wie des künstlerischen, eine straffere Unterordnung der Theile
unter ein beherrschendes Element als begehrenswerthen Ausdruck der Einheit des Ganzen erschei-
nen Hess.

Die Auflösung der alten Zünfte und ihre Reorganisierung nahm eine längere Reihe von Jahren
in Anspruch, während welcher begreiflichermaassen der Antrieb fehlte, dem in seinen Grundlagen also
schwankenden Schützenwesen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Im Jahre 1580 war die Umge-
staltung in Amsterdam im Wesentlichen vollzogen und eine Reihe zum Theile datierter Bilder ver-
gegenwärtigt die ersten Versuche, dem neuen Geiste Rechnung zu tragen: so Nr. 758 des Rijksmuseums
mit der Corporalschaft des Dirk Jacobsz Rosecrans1, datiert 1584, im Kataloge dem Cornelis Ketel zu-
geschrieben, und Nr. 759 mit dem Datum 1588, in welchem van Riemsdyck und Dr. J. Six ein Werk
(und zwar das letzte 1 des Dirk Barentsz erkennen wollen. Alle diese Bilder suchen die alte Reihen-
composition mit einer Raumcomposition und die symbolische Auffassung mit einem subjectiv-momen-
tanen Ausdruck mittelst lebhafterer äusserer Bewegungen zu verbinden und auch eine wirksamere Sub-
ordination einzuführen. Dieses unvermeidliche Stadium des Tastens erscheint jedoch überwunden in
einem signierten Bilde des Cornelis Ketel von 1588, Nr. 754 des Rijksmuseums (Fig. 29), mit der Cor-
Poralschaft desselben Capitäns Dirk Jacobsz Rosecrans, der sich mit seinen Leuten bereits im Jahre
J584 hatte malen lassen. Dass wir mit diesem Bilde einen ganz neuen Boden betreten, sagt uns schon
die bisher unerhörte Darstellung der Schützen in ganzen Figuren. Im Allgemeinen hat man zwar auch
späterhin im Gruppenporträt die Halbfigur bevorzugt, aus dem begreiflichen Grunde, um dem Antlitze,
das ja gerade bei den Holländern als Spiegel der Seele das weitaus Wichtigste am Porträte war, durch
die Beine und den durch diese unvermeidlich mitsuggerierten Bewegungseindruck nicht Concurrenz zu
Inachen. Aber dass man es jetzt überhaupt gewagt hat, die Beine der Porträtierten sehen zu lassen,
beweist einen grundstürzenden Wechsel der Auffassung. Zugleich ist damit von vornherein gesagt,
dass das nächste Problem, dessen Lösung eben Cornelis Ketel unternahm, nicht so sehr in einer sub-

1 Die Bedeutung die nun der Capitän vermöge der strafferen militärischen Subordination- in diesem reformierten
Schulwesen der Unfbhängigkcitszei, gewonnen hat, gelangte schon äusserten in den Bezeichnungen der Schützenstücke
zweiten Periode (Compagnie, Halbcompagnie, Corporalschaft des Capitäns, Lieutenants u s. w.) zum Aus rucke, wahrend
di<= früheren einfach als »Rotten« dieses oder jenes Doelen bezeichnet waren. Die Deelen hingegen, an welche diese Com-
Pagnien u s w zunächst nach wie vor gebunden blieben, fanden von nun an namentlich in Amsterdam in den Bezeich-
nungen der Schützenstücke kaum mehr eine Erwähnung, worin sich der Rückgang des demokratischen Geistes seit der Er-
regung des Selbstregiments nicht minder schlagend offenbart.
 
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