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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

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I. Theil: Abhandlungen
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Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0158
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Alois Riegl.

breiterung nach vorne in ähnlicher Weise gegen den Beschauer herauszuspringen scheint wie die ge-
schilderte Palastfacade. Wenn also Cornelis Ketel in ungleich höherem Maasse als alle Bisherigen den
Hintergrund und die räumliche Umgebung seiner Figuren ausgeführt hat, so ist zu bedenken, dass es
sich ihm doch noch nicht darum gehandelt hat, einen ruhigen Raumgrund sondern einen bewegten
Körpergrund zu schaffen.

Wenden wir uns nun zu den Figuren. Hier finden wir anscheinend zum ersten Male1 das Hinter-
einander wirklich durchgeführt; denn noch in Dirk Barentsz' Mahlzeit von 1566 konnten wir wenigstens
an beiden Ecken hinter der sitzenden Figurenreihe je zwei darüber emporragende Stehende wahr-
nehmen, ohne dass dieses Darüber räumlich besonders motiviert und determiniert erschienen wäre: das
Uebereinander war gleichsam auch nur der symbolistische Ausdruck für das Hintereinander. Und doch
wird man sich bald überzeugen, dass selbst in diesem Bilde Ketels das Subject noch immer seinen
Standpunkt nach den Bedürfnissen des Objects nehmen musste und nicht umgekehrt, wie es der strenge
Subjectivismus fordern würde. Denn betrachtet man die Reihe von vier Figuren, die links schräg nach
der Tiefe zu aufgestellt sind, so bemerkt man, dass die Köpfe nach hinten stetig übereinander empor-
wachsen, anstatt den subjectiven Seherfahrungen gemäss eine abfallende Linie zu beschreiben. Eine
solche Erscheinung ist subjectiv nur dann möglich, wenn das Subject einen sehr hohen Augenpunkt
einnimmt, — höher als die normale Gesichtshöhe des Menschen, aus welcher wir Subjecte die Dinge
wahrzunehmen gewöhnt sind. Es verräth sich darin die antike Tendenz, die Dinge aus der Vogel-
perspective gleichsam auf den Erdboden umzulegen, der ihnen als ebener Hintergrund dient und sie
alle, die wir im Tiefraume verstreut zu sehen gewöhnt sind, zu einer Ebene vereinigt. Dies allein sagt
uns schon, dass die Composition des Ganzen trotz gesteigerter Rücksichtnahme auf die subjectiven
Raumerscheinungen noch in wesentlichen Zügen den Charakter der Ebencomposition festhält. Es sei
hiebei nur noch an das Pflaster erinnert, das ebenfalls weit steiler ansteigend gebildet ist, als es der
normalen Gesichtserfahrung entspricht, und das daher ebenfalls einen ungewöhnlich hohen Augenpunkt
voraussetzt.

Haben wir uns nun zu entscheiden, ob wir die vorliegende Composition eine objectivistische
symmetrische Ebencomposition oder eine subjectivistische Raumcomposition nennen sollen, so werden
wir trotz der vorhandenen Mischung beider Elemente doch noch die erste Bezeichnung für die
gerechtfertigtere halten. Das Vereinheitlichende ist hier noch immer die centralistische Symmetrie;
denn wenn dieses Verhältnis im ersten Augenblick in Zweifel bleibt, so liegt es nur daran, dass der
Schütze, dessen Kopf genau in die Mitte fällt (zwischen Capitän und Lieutenant) nach hinten gerückt
und überhaupt unauffälliger behandelt ist. Die sachliche Hauptperson ist, wie wir gehört haben, der
Capitän. Aber auch er steht nicht im künstlerischen Centrum sondern der Fahnenjunker, der sich dem
Beschauer en face zuwendet und zwischen den im contrapostischen Profil auftretenden Figuren des
Capitäns und Lieutenants genau die Mitte hält. Und da obendrein diese drei Chargenfiguren mit
künstlerischen Mitteln in den Vordergrund gerückt sind, so kann die centralistische Function des
Fahnenjunkers dem Beschauer nicht entgehen.

Das mathematische Compositionscentrum (der Schütze, an dessen Beinen das Hündchen empor-
springt) fällt somit weder mit demjenigen der Auffassung (Subordination durch den Capitän) noch des
Bildes (Subordination durch den Fahnenjunker) zusammen. Und wirft man noch einmal einen Blick
auf die Umgebung, so zeigt sich sofort, dass auch diese ihren subjectiven Mittelpunkt in der rechts-
seitigen Flanke (vom Beschauer aus genommen) des Fahnenjunkers hat; denn die Senkrechte des
Schachbrettmusters der Fliesen, in der der Augenpunkt liegen muss, läuft mit mathematischer Sicher-
heit hier durch und auch die Perspective der Palastfront ist dementsprechend gezeichnet. Die übrigen
Figuren aber sind zunächst der symmetrischen Hauptgruppe ebenfalls symmetrisch vertheilt und nur
in den Ecken verhalten sie sich wie vier zu zwei; wie nun die Composition jener vier dem Eindrucke
einer Ebene dienen sollte, wurde schon vorhin erörtert und in der rechten Ecke gab schon die geringe

1 Wenn man von dem vereinzelten Vorläufer von 15 31 (Fig. 15, siehe S. 108) absieht.
 
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