Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

DOI Heft:
I. Theil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0159
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das holländische Gruppenporträt. 153

Zahl der (zwei) Figuren keinen Anlass zur Schwierigkeit. Der Meister wollte olfenbar durch leise Ver-
schiebung des Centrums, ferner durch Zusammenpressung der Figuren in der rechten Ecke (weshalb
die Eckfigur auch zur Hälfte durch den Rahmen weggeschnitten wurde) und Entfaltung einer grösseren
Zahl auf der entgegengesetzten Ecke den objectivistischen Eindruck der Symmetrie mildern, ohne ihn
gleichwohl bis zur Unmerklichkeit zu verschleiern.

Es ist uns aber noch ein ganz untrügliches, geradezu mathematisches Mittel an die Hand gegeben,
um zu erkennen, wie weit der Meister seine Figuren nach der Raumtiefe vertheilen wollte. Ihre Füsse
stehen ja auf dem Schachbrettmuster des Pflasters, und da die Breite einer Fliese durch den schräg-
gestellten Fuss des Fahnenjunkers vollständig bedeckt wird, können wir die Tiefe leicht abmessen. Da
zeigt sich, dass die Figuren sämmtlich in einer Tiefe von fünf Fliesen zusammengedrängt sind. Wenn
man nun bedenkt, dass auf einem Raum von nicht fünf Fuss Tiefe links vier Figuren schräg hinter-
einander Platz finden mussten, so ist es klar, dass dieselben eng gedrängt, unter möglichstem Ausschluss
alles Freiraumes dazwischen zu stehen kamen. Mit anderen Worten: die Tiefe, in welcher die Figuren
aufgestellt erscheinen, ist im Verhältnis zur Anzahl der Figuren und zur Breite der Composition eine
so geringe, dass dadurch das Bestreben, sie nach Möglichkeit der Ebene anzunähern, ausser Zweifel
gerückt wird.

Trotz dieses grundsätzlichen Beharrens bei der Symmetrie und der Projection in die Ebene kann
man sich doch angesichts des Bildes des Eindruckes nicht erwehren, dass hier gegenüber den früheren
Gruppenporträten in der räumlichen Trennung der Figuren ein grosser Fortschritt geschehen ist. Decken
"wir selbst die untere Hälfte zu, in welcher die bewegten Beine auf dem quadrierten Pflaster und die
dazwischen laufenden Hunde das Vor- und Rückwärts versinnlichen helfen, so bemerkt man, dass auch
die Halbfiguren weit stärker als selbst noch bei Dirk Jacobsz in seinen letzten Bildern von einander
losgehen. Es gilt dies namentlich von den drei Chargen, die gleichsam den vorderen Theil eines ellipti-
schen Figurenringes bilden: dass die übrigen vier hinter ihnen stehen, wird uns da nicht mehr allein
durch die Deckung verrathen sondern auch durch coloristische Mittel, indem namentlich das helle
Costüm der Hinteren durch das dunklere der Chargen wirksam zurückgeschoben erscheint. Ja sogar
Randschatten begegnet man bereits stellenweise längs der unteren Extremitäten und nur der gänzliche
Mangel eines Helldunkels beweist, dass dem Meister eine Versinnlichung des Luftraumes zwischen den
Figuren noch kein specielles Problem gebildet hat. Endlich mag man nicht übersehen, dass wenigstens
zwei Figuren dem Beschauer den Rücken wenden und somit die Gruppe in der Tiefe gegen den Be-
schauer hin schliessen und abrunden, was immer im Sinne eines Raumcentrums wirkt; und wenigstens
Ansätze zu solchen dürfen wir in den drei Raumbuchten erkennen, die links (durch sechs Figuren ge-
bildet), in der Mitte (zwischen den drei Chargen) und rechts (zwischen den drei abschliessenden
Figuren) nach der Tiefe einspringen.

Seine subjectivistischen Fortschritte hat der Meister somit hauptsächlich auf die Körper con-
centriert und daher ist es nothwendig, auch die einzelnen Figuren für sich, losgetrennt von der Com-
position des Ganzen, in Betracht zu ziehen. Zweierlei fällt uns an denselben als gänzlich neu auf:
erstens die oft bis zur Manieriertheit gesteigerte äussere Bewegung und zweitens die zahlreichen, eben-
falls vielfach gesuchten Diagonalen, die freilich zum Theil schon durch den ersterwähnten Umstand
mitbedingt erscheinen.

Die ruhelose Art und Weise, in welcher der Lieutenant den Rumpf nach der Tiefe hinein, den
Kopf aus der Tiefe heraus wendet und dabei die Beine nach verschiedenen Richtungen setzt, den
rechten Arm senkrecht zum Boden hoch hält und den linken mit dem Ellbogen senkrecht zum Beschauer
in die linke Hüfte stemmt, ist ohne Beispiel nicht allein im früheren Gruppenporträt sondern in der
älteren niederländischen Malerei überhaupt. Es ist jener Manierismus der gleichsam durch wider-
streitende Gefühle bewegten und hin- und hergeworfenen menschlichen Figur, der in Italien mit Michel-
angelo anhebt und in Holland namentlich durch Marten van Heemskerk und Cornelis Cornelisz Ein-
gang gefunden hat. Natürlich war es nicht künstlerische Caprice, was die holländischen Meister dafür
eingenommen hat, sondern eine zwingende Nothwendigkeit, die der Gang der Kunstentwicklung im
 
Annotationen