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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Wickhoff, Franz: Aus der Werkstatt Bonifazios
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0102
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Franz Wickhoff.

Geld ein und hat mit der Rechten den Deckel des Kastens geöffnet, wohinein er es werfen will. Ich
weiß mich keines venezianischen Bildes zu erinnern, auf dem sich eine so lebendig die Wirklichkeit vor-
täuschende Genregruppe fände. Bei Carpaccio war alles Ähnliche märchenhaft, Bassanos Leistungen
dieser Art fallen später. Man wird an Jan Steen und seinesgleichen erinnert. Dahinter, von dieser
zweiten Gruppe abgedrängt, erscheint eine dritte, wo eine ineinandergekeilte Menschenmenge zum
Tore hinausdrängt. Auch da ist jede der Figuren, die sichtbar sind, in Anlitz und Gebärde individuali-
siert. Diese Gruppe reicht bis zur gedoppelten Säulenreihe, die den Hintergrund des Tempels trennt
und so zwei gesonderte Räume bildet. An dem Fuße der vordersten Säule hat sich ein Mann nieder-
gelassen, der zwei Eimer an einer Stange über der Schulter trägt; er hat seinen kleinen Knaben zwischen
den Beinen stehen und sieht neugierig danach, was bei dem Tische des Wechslers vorgeht. Eine
Frau, die hinterste der nach außen drängenden Menge, mit einem Wickelkinde im Arme, dreht sich
nach ihm und tupft ihn auf die Hand, um ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die ihn bedroht.
Durch solche geistreiche, wohl überlegte Motive sind die Gruppen untereinander verbunden. Zwei
Priester schlüpfen scheu durch die Säulen. Zum Schlüsse, schon in dem zweiten Räume links, macht
sich noch eine Frau mit zwei Tauben in einem Korbe auf den Weg dem Tore zu, an der Christus,
ohne sie zu beachten, schon vorbeigeschritten ist. Diese vier Personen — der sitzende Händler, die
beiden Priester und die Frau mit den Tauben — werden von der vordersten Gruppe überschnitten,
wodurch die Vertiefung des Raumes veranschaulicht wird. Dasselbe Mittel der Raumvertiefung ver-
wendet der Maler noch kühner am Rande links. Da ist aber vorher noch über die Gestaltung des
Raumes zu sprechen. Zunächst von dem Augpunkte. Er liegt ganz exzentrisch in dem Köpfchen der
kleinen Mosesfigur über der Bundeslade, das ist etwa zwei Elftel der Bilderbreite vom Rande links ent-
fernt und etwas höher als das einschneidende Ende der Stichkappen. Das wird für die bequemste Stel-
lung des Beschauers in dem alten Aufstellungsort berechnet gewesen sein. Durch diese Verschiebung
des Augpunktes gewann der Künstler eine sehr mannigfaltige Ansicht des Innenraumes, der durch die
erwähnten Doppelsäulen geteilt wird. Der Hintergrund der einen Abteilung bildet das Allerheiligste
mit der Lade; der Vorhang, der es abschließen soll, ist zurückgezogen. Die andere Abteilung ist durch
die Säulenstellung halb verdeckt. Die perspektivische Behandlung der Architektur ist ein Meisterstück,
ihr kommt die Verkürzung des gewürfelten Fußbodens zuhilfe, um den Eindruck der Raumtiefe zu
verstärken. Links vor dem Allerheiligsten bewegt sich die vierte Gruppe um den krankenheilenden
Herrn. Hier bilden links sechs Figuren, die so übereinander gestellt sind, daß die vordere immer die
hinter ihr befindliche überschneidet, eine vertikale Gruppe, die die ganze Tiefe des Raumes andeutet.
Die äußerste Figur dieser Gruppe, ein halbwüchsiger Knabe, wird wieder von einem der gestürzten
Händler der vordersten Gruppe überschnitten, der, als Vordergrundfigur im größeren Maßstabe gebildet,
die Personen hinten weit zurückschiebt. Nicht minder interessant, als die Figurengruppen sind, ist die
Lichtführung. In den düstern Raum fällt durch die offene Tür und die Rundfenster darüber Licht,
das die Figuren und die Säulen bestrahlt und zwischen den Säulen in den nächsten Raum hineindringt.
Ein köstliches Helldunkel entsteht, aus dem die farbensatten Gewänder hervorleuchten. Raumgestaltung
und Lichtführung weisen über die venezianische Kunst hinaus. Es sind die Werke Albrecht Dürers,
vor allen seine Holzschnitte, die das bestimmende Vorbild abgeben. Das Abendmahl der großen Passion
(Bartsch 5) und die Vermählung der Jungfrau aus dem Marienleben (Bartsch 82) kommen zunächst in
Betracht: die Halle auf der Vertreibung der Wechsler ist wie eine Variation des Themas dieser Blätter.
Das scharfe Licht auf den vorderen Figuren vor einem helldunklen Hintergrunde weist auf die kleine
Passion; die Heilung des Lahmen durch Petrus (Bartsch 18) ist wieder besonders zu erwähnen. Der
Künstler ist ein großer Förderer der malerischen Probleme Venedigs, der hoch über Bonifazio steht,
dem solche Versuche meilenferne lagen. Er stammt, ebenso wie Bonifazio, wie später Tintoretto, von
Tizian ab; er ist eine bedeutende Individualität für sich, die sich neue Wege sucht. Am meisten
ist er mit Paris Bordone verwandt, dessen Schüler er sein könnte, den er jedoch überragt wie Bassano
den Bonifazio. Fragen wir nach seinem Namen, so wird uns durch die beiden Apostelbilder des
Cernotto, die dieses Bild zwischen sich einschließen, die Antwort leicht gemacht. Der Typus ihrer
 
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