Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

DOI Heft:
I. Theil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0198
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
192

Max Dvorak.

daß er dadurch weder den Ursprung noch das Wesentliche des Unterschiedes richtig getroffen hat. Es
ist nicht die Verschiedenheit der Tendenz, des Wollens, welche diese Kunstwerke trennt. Die einen sind
ebensowenig der Absicht und der Begabung des Urhebers nach mehr plastisch als die anderen mehr
malerisch sondern sie stehen in beider Richtung auf einer verschiedenen Stufe in der Entwicklung
der Darstellungsprobleme. Mit demselben Rechte könnte man die ganze Kunst der vorangehenden Zeit
als mehr plastisch bezeichnen und das wäre doch eine inhaltslose Phrase. Der Meister der thronenden
Madonna des Genter Altares steht, wie in der Zeichnung, so auch in der plastischen und malerischen
Darstellung der Formen weit näher den Schemen der gotischen Kunst als Jan van Eyck.

Die Fortschritte der wahrheitstreuen Naturwiedergabe in der mittelalterlichen Kunst sind nicht
aus einem bewußten und konsequenten Modellstudium entstanden sondern bestehen aus einer

Flg. 7. Jan van Eyck, Madonna des Kanzlers Rolin.
Paris, Louvre (Ausschnitt).

wachsenden Anzahl von nach und nach aus der Formenerinnerung geschöpften Erfahrungen und Er-
innerungen, die in konventioneller und oft wenig organischer und natürlicher Art vereinigt oder an
hergebrachten und typischen Kompositionen angebracht wurden. Die Spuren dieser sukzessiven"
naturalistischen Ausgestaltung einer überlieferten Darstellung der menschlichen Figur kann man noch
an dem heiligen Trio des Genter Altares beobachten. Wenn auch die Gestalten bei oberflächlicher
Betrachtung den Eindruck einer vollen Lebenswahrheit hervorrufen, so erkennen wir doch leicht bei
genauerem Zusehen, daß diese Naturtreue noch viele Lücken hat und im Grunde auch noch nicht
minder abstrakt und konstruiert ist wie bei den spätmittelalterlichen Skulpturen. Es spricht nicht «das
Knochengerüst deutlicher mit» als bei Jan van Eyck, wie Tschudi meinte, sondern ein überliefertes
Formengerippe, welches höchstens insofern als mehr plastisch bezeichnet werden kann, als es sich vor
allem in der gotischen Skulptur entwickelt hat. Wie in dieser sind die einzelnen Teilformen noch
scharf abgegrenzt; der Künstler hat noch nicht die Beobachtung gemacht, daß in der Wirklichkeit
diese Abgrenzung nicht besteht oder der organischen Zusammengehörigkeit gegenüber in den Hinter-
grund tritt. Damit hängt auch zusammen, daß die Modellierung teilweise noch ganz allgemein und
 
Annotationen