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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0222
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Max Dvofäk.

in der Regel Verunstaltungen) steht bei Jan van Eyck ein nie versagendes Verständnis für die Mannig-
faltigkeit der Aufgaben gegenüber, verbunden mit dem Vermögen, jeder neuen Aufgabe die ihr eigene
Harmonie der Verhältnisse abzugewinnen.

Unseren Lesern wird es hoffentlich nicht paradox erscheinen, wenn wir behaupten, daß trotz
dieser Mannigfaltigkeit alle Hände, welche Jan gemalt hat, auch ihrer Form nach einen bestimmten,
gemeinsamen und persönlichen Charakter haben. Es gibt keinen Naturalismus, welcher nicht die
Natur durch das Medium der historischen Kunststufe sehen würde, auf der er steht, und der künst-
lerischen Individualität, die sich seiner bedient. Und so weisen auch die Hände Jans trotz ihrer Natur-
treue einen allen eigenen und eigentümlichen Zug auf, der leichter zu entdecken als in Worte zu fassen

ist, der jedoch für jeden, der für dergleichen Dinge ein Auge hat, un-
verkennbar sein muß. Es ist, als ob Jan alle Hände, die er gemalt hat,
selbst solche, welche sich auf den ersten Blick als genaue Naturstudien
erweisen, unbewußt ein wenig idealisiert hätte zu einer Gestalt, von wel-
cher uns z. B. die Hände der Madonna aus der Verkündigung des Genter
Altares oder die Hand der Madonna des Kanzlers Rolin ein gutes Bei-
spiel geben (Fig. 5, 7). Es klingt in diesen schönen Händen noch leise
der Typus der gotischen Kunst nach. Wer aber mit dem Formen-
inventar der Vorgänger und Zeitgenossen Jans vertraut ist, wird leicht
erkennen, wie neu und individuell sie zugleich sind. Es ist ein neuer
Typus, der eine neue Schulüberlieferung veranlaßt hat.

Charakteristisch für die Hände Jans und seiner Nachahmer ist
die schlanke und feine Bildung der Gelenke. Hände, bei welchen der
Knochenbau stark und derb hervortritt oder umgekehrt ganz durch
Fleischklumpen unkenntlich gemacht wird, würde man auf den Bildern
Jans vergeblich suchen. Besonders die Finger sind in der Regel schmal
und wohlgebildet; man könnte durch sie daran erinnert werden, daß
Jan einen großen Teil seines Lebens an Fürstenhöfen zugebracht hat.
Bei vielen Händen Jans wiederholt sich eine auffallende Eigentümlich-
keit. Wir können sie z. B. an der linken Hand der Verkündigungs-
madonna beobachten oder an den Händen des Rolin (Fig. 5, 20). Es
fällt da auf, daß der obere Kontur des Zeigefingers mit dem Kontur
des angrenzenden Teiles der Hand eine ganz gerade Linie bildet, die
sich über die Wurzel des Daumens bis zum Rande der Hand, dort, wo
sie am breitesten ist, hinzieht und zu der die ebenso geraden Umrisse
des Daumens im scharfen Winkel stehen. In der Natur sind diese Kon-
turen nicht geradelinig sondern machen eine Reihe von Biegungen,
der Einschnitt zwischen dem Daumen und der Handfläche zieht sich
nie bis zum Rande und die Linien, welche die Handfläche und die Innenseite des Daumens begrenzen,
stoßen bei dieser Lage der Hand nicht in einem scharfen Winkel aneinander sondern verlaufen in einer
Rundung. Die Hand bekommt durch diese Eigentümlichkeiten, die wahrscheinlich aus dem Bestreben,
energische Linien zu schaffen, entstanden sind, in dem Zeigefinger- und Daumenteile eine geradlinige
und scharfwinklige Form, die nicht ganz der Natur entspricht oder zum mindesten eine etwas abnormal
gebildete Hand voraussetzt und die als ein Kriterium der Werke Jans und seiner Nachahmer be-
trachtet werden kann.

Die Hände, welche der Maler der vier Tafeln gemalt hat, sind von der Grundform an bis zum
letzten Zeichenstriche anders; man kann von ihnen fast in jeder Beziehung das gerade Gegenteil von
dem behaupten, was über die Hände Jans gesagt wurde. Waren diese klein und zierlich, so sind jene
groß und grob. Waren diese schlank und fein, so sind jene entweder knochig oder klumpig. Waren
diese proportioniert, so sind jene mißgestaltet. Die Hände der thronenden Madonna sind weder die

Fig. 20. Jan van Eyck, Madonna
des Kanzlers Rolin.
Louvre (Ausschnitt).
 
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