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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0225
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Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.

recht in die Höhe; die Figuren müßten herunterrutschen, wenn es in der Wirklichkeit so sein sollte.
Doch es war gewiß nicht die Absicht des Malers, eine wandsteile Wiese als die Bühne darzustellen, auf
welcher sich die heilige Versammlung befindet. Es war ein Hintergrund, wie er in der spätmittelalter-
lichen Malerei allgemein gewesen ist und der nicht eine auf-
steigende Fläche sondern im Gegenteil den sich vertiefenden
Raum vorzustellen hatte. Denn darin besteht in erster Reihe
die Entwicklung der spätmittelalterlichen landschaftlichen Per-
spektive, daß die ursprünglich wie die Tapetenhintergründe
fast ganz nur zweidimensional behandelten Hintergrundsland-
schaften schrittweise zu einem sich vertiefenden Räume um-
gedeutet werden. Man vermochte noch nicht, eine landschaft-
liche Ebene dreidimensional darzustellen; doch man half sich
dadurch, daß man dem hinter den Figuren aufsteigenden land-
schaftlichen Plane durch einzelne perspektivische Andeutun-
gen eine gewisse räumliche Vertiefung gab. Es wird dadurch
die Fiktion erweckt, als ob der Maler die Landschaft und
die Figuren von einem hohen Augenpunkte aus betrachtet
hätte; doch es ist die mittelalterliche Gewohnheit, die einzel-
nen Teile der Komposition übereinanderzustellen, welche
dieser Anordnung zugrunde liegt, und nicht eine perspek-
tivische Erwägung. Man bemühte sich, die Flächenhaftigkeit
des landschaftlichen Hintergrundes durch einzelne nach der
Tiefe leitende Richtungslinien zu durchbrechen, und erst nach
und nach vereinigten sich diese Versuche zu einem einheit-
lichen Systeme. Von einem einheitlichen Augenpunkte kann
nicht einmal beiläufig die Rede sein, seine Höhe und Distanz
verändert sich von einem Motive zum anderen, das Bestreben
und die Kunst des Malers besteht eben darin, darüber und über
das Fehlen des Horizonts hinwegzutäuschen. Das jäh hinter
den zwei Hauptgruppen in der Anbetung des Lammes auf-
steigende Gelände ist unmöglich anders zu erklären als in
dieser Weise. Es soll die weit und tief sich erstreckende Land-
schaft vorstellen, im wesentlichen noch in derselben Weise,
wie sie z. B. in den Trecentomalereien im Campo Santo zu
Pisa oder auf den Bildern des Broederlam dargestellt wurde.

Doch plötzlich geht diese landschaftliche Tapete dort,
wo wir sie nach allen Analogien durch einfach im Aufriß ge-
zeichnete Berge oder Bäume abgeschlossen erwartet hätten,
in eine wirkliche, moderne Landschaft über, in eine Land-
schaft, die einen Horizont hat, die von einem einheitlichen
Gesichtspunkte gesehen und dargestellt ist, und zwar, was
das Merkwürdigste ist, von einem verhältnismäßig niedrigen
Gesichtspunkte, mit anderen Worten in eine Landschaft, die
Raum und Tiefe hat, und in der das Problem der dreidimen-
sionalen Darstellung der Ebene bereits der Hauptsache nach

gelöst wurde. Einer gotischen Statue, die einen Quatrocentokopf hat, könnte man diesen so merk-
würdig zusammengestellten landschaftlichen Hintergrund vergleichen oder einem gotischen Baue, über
den sich, wie bei der titanenhaften Schöpfung Brunellescos, eine klassische Kuppel wölbt, ohne daß
jedoch mit einem solchen Vergleiche der ganze Zwiespalt zwischen den beiden Teilen der Landschaft

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Fig. 24.

Jan van Eyck, Madonna des Kanzler Rolin.
Louvre (Ausschnitt).
 
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