Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.
233
Petersburger Flügeln und den Werken Jans zumindestens ein unmittelbarer Schulzusammenhang,
welchen man in der Landschaft bis zur geringsten Einzelnheit und fast an jeder Figur, bei jeder Form
belegen kann. Mit diesem Vergleiche können wir auch die Frage nach dem Autor verbinden.
Es sei uns ein auf diese Frage bezügliches Geständnis gestattet. Es schien uns a priori unmöglich
zu sein, daß diese Bilder, in welchen das Alte mit dem Neuen kämpft, gerade von jenem Meister
wären, dessen Kunst bisher als die nach der Art der Cuvier'schen Katastrophen sich vollziehende
Wandlung selbst aufgefaßt wurde; das wäre ein gar zu unverhoffter Glückszufall. Wir waren also fast
sicher, Beweise dafür zu finden, daß die Bilder nicht von Jan sein können. Statt dessen fanden wir
aber immer wieder neue Belege dafür, daß sie von niemandem anderen sind als von dem fabelhaften
Prometheus der niederländischen Malerei selbst.
Es ist bereits von Justi und Tschudi eine Reihe von Ubereinstimmungen zwischen den beiden
Bildern und den Werken Jan van Eycks hervorgehoben worden, Ubereinstimmungen, die zuweilen so
stark sind, daß wir an Nachahmungen denken könnten, wären nicht die ihnen zugrunde liegenden
Motive in einer anderen Verbindung ange-
wendet worden, die nicht als Nachahmer-
arbeit bezeichnet werden kann. Es ist je-
doch nicht nötig, daß wir uns auf diese
Tautologien berufen, da beide Bilder genug
Züge aufweisen, die von dem dargestellten
Gegenstande unabhängige Kennzeichen der
eigenhändigen Werke Jans bilden.
Zu diesen Kennzeichen gehören vor
allem die Hände, welche dieselben Eigen-
tümlichkeiten aufweisen wie die Hände Jans.
Eine ähnliche Sicherheit, die Hände in den
verschiedensten Stellungen mit gleicher Na-
turtreue darzustellen, wie wir sie auf den
Bildern in Petersburg finden, läßt sich in
der älteren niederländischen Malerei nur bei
Jan van Eyck nachweisen, und daß wir sie Fig_ 28_ Jan yan Eyck> Jüngstes Gerkht_
auch in diesen Bildern ihm zuschreiben St petersburg; Eremitage (Ausschnitt),
können, wird sowohl durch die zierliche
überkleine Gestaltung der Hände nachgewiesen — man beachte nur die frauenhaften und wohlgestal-
teten Hände der Kriegsschergen — als auch durch die allen diesen Händen zugrunde liegende ideale
Grundform, die dieselbe ist, welche wir als ein Kriterium der Werke Jans gefunden haben. Wer die-
sem Beweise nicht folgen kann, den verweisen wir auf andere, die noch drastischer sind.
Voll beklagte sich in einer seiner Abhandlungen, daß die über den P'iguren des Adam und der Eva
vom Genter Altare gemalten Steinreliefs mit der Darstellung des Opfers und des Mordes Kains und Abels
bisher wenig für das Studium der Kunst Jans verwertet wurden. Doch ließ er sich dieselbe Unterlassung
zuschulden kommen, da er sonst die Zuweisung der Petersburger Tafeln an Jan nicht bekämpft hätte.
Man beachte, wie auffallend und unnatürlich lange Arme die Figuren jener Steinbilder haben, Arme,
die ihren Inhabern in aufgerichteter Stellung bis über die Knie reichen würden. Dieselben dünnen über-
langen Hände finden wir sowohl bei dem gekreuzigten Christus und den beiden Häschern auf dem Kal-
varienbilde als auch bei den aus den Gräbern Auferstehenden und den Verdammten auf dem jüngsten
Gerichte zu Petersburg. Wollte man die Übereinstimmung in dieser merkwürdigen Abnormität auch
noch für einen Zufall erklären, so gibt es doch auch in der Zeichnung und Form dieser Arme einen
eigentümlichen Zug, von dem wir nicht annehmen können, daß ihn ein Schüler nachgeahmt hätte
oder daß er unabhängig bei zwei verschiedenen Künstlern vorkommen könnte. Die Arme der Figuren
in den zwei Giebelbildern sind in einer nicht zu verkennenden Weise verzeichnet; man könnte sie
xxiv. 33
233
Petersburger Flügeln und den Werken Jans zumindestens ein unmittelbarer Schulzusammenhang,
welchen man in der Landschaft bis zur geringsten Einzelnheit und fast an jeder Figur, bei jeder Form
belegen kann. Mit diesem Vergleiche können wir auch die Frage nach dem Autor verbinden.
Es sei uns ein auf diese Frage bezügliches Geständnis gestattet. Es schien uns a priori unmöglich
zu sein, daß diese Bilder, in welchen das Alte mit dem Neuen kämpft, gerade von jenem Meister
wären, dessen Kunst bisher als die nach der Art der Cuvier'schen Katastrophen sich vollziehende
Wandlung selbst aufgefaßt wurde; das wäre ein gar zu unverhoffter Glückszufall. Wir waren also fast
sicher, Beweise dafür zu finden, daß die Bilder nicht von Jan sein können. Statt dessen fanden wir
aber immer wieder neue Belege dafür, daß sie von niemandem anderen sind als von dem fabelhaften
Prometheus der niederländischen Malerei selbst.
Es ist bereits von Justi und Tschudi eine Reihe von Ubereinstimmungen zwischen den beiden
Bildern und den Werken Jan van Eycks hervorgehoben worden, Ubereinstimmungen, die zuweilen so
stark sind, daß wir an Nachahmungen denken könnten, wären nicht die ihnen zugrunde liegenden
Motive in einer anderen Verbindung ange-
wendet worden, die nicht als Nachahmer-
arbeit bezeichnet werden kann. Es ist je-
doch nicht nötig, daß wir uns auf diese
Tautologien berufen, da beide Bilder genug
Züge aufweisen, die von dem dargestellten
Gegenstande unabhängige Kennzeichen der
eigenhändigen Werke Jans bilden.
Zu diesen Kennzeichen gehören vor
allem die Hände, welche dieselben Eigen-
tümlichkeiten aufweisen wie die Hände Jans.
Eine ähnliche Sicherheit, die Hände in den
verschiedensten Stellungen mit gleicher Na-
turtreue darzustellen, wie wir sie auf den
Bildern in Petersburg finden, läßt sich in
der älteren niederländischen Malerei nur bei
Jan van Eyck nachweisen, und daß wir sie Fig_ 28_ Jan yan Eyck> Jüngstes Gerkht_
auch in diesen Bildern ihm zuschreiben St petersburg; Eremitage (Ausschnitt),
können, wird sowohl durch die zierliche
überkleine Gestaltung der Hände nachgewiesen — man beachte nur die frauenhaften und wohlgestal-
teten Hände der Kriegsschergen — als auch durch die allen diesen Händen zugrunde liegende ideale
Grundform, die dieselbe ist, welche wir als ein Kriterium der Werke Jans gefunden haben. Wer die-
sem Beweise nicht folgen kann, den verweisen wir auf andere, die noch drastischer sind.
Voll beklagte sich in einer seiner Abhandlungen, daß die über den P'iguren des Adam und der Eva
vom Genter Altare gemalten Steinreliefs mit der Darstellung des Opfers und des Mordes Kains und Abels
bisher wenig für das Studium der Kunst Jans verwertet wurden. Doch ließ er sich dieselbe Unterlassung
zuschulden kommen, da er sonst die Zuweisung der Petersburger Tafeln an Jan nicht bekämpft hätte.
Man beachte, wie auffallend und unnatürlich lange Arme die Figuren jener Steinbilder haben, Arme,
die ihren Inhabern in aufgerichteter Stellung bis über die Knie reichen würden. Dieselben dünnen über-
langen Hände finden wir sowohl bei dem gekreuzigten Christus und den beiden Häschern auf dem Kal-
varienbilde als auch bei den aus den Gräbern Auferstehenden und den Verdammten auf dem jüngsten
Gerichte zu Petersburg. Wollte man die Übereinstimmung in dieser merkwürdigen Abnormität auch
noch für einen Zufall erklären, so gibt es doch auch in der Zeichnung und Form dieser Arme einen
eigentümlichen Zug, von dem wir nicht annehmen können, daß ihn ein Schüler nachgeahmt hätte
oder daß er unabhängig bei zwei verschiedenen Künstlern vorkommen könnte. Die Arme der Figuren
in den zwei Giebelbildern sind in einer nicht zu verkennenden Weise verzeichnet; man könnte sie
xxiv. 33