Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.
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heit einigemale im Verlaufe der Geschichte geschenkt wurden. An eine Nachahmung kann man
denken, wo es sich um ein stilistisch entwickeltes Werk handelt in einer mangelhaften Ausführung;
wo uns aber ein stilistisch unentwickeltes Werk in einer unübertrefflichen Durchführung vorliegt,
da ist die Entscheidung nicht schwer. Man rufe sich die besten Landschaften Rogiers oder jene der /
besten niederländischen Quattrocentolandschafter, des Bouts oder des Meisters von Flemalle, in Er-
innerung, man vergleiche z. B. die Petersburger Madonna mit dem heil. Lukas von Rogier, mit der
Madonna des Kanzlers Rolin und man wird leicht erkennen, wie unnachahmlich und einzig die ge-
schilderte spielend leichte und sichere Malweise in ihrer Zeit gewesen ist.
Eine ähnliche Landschaft in derselben Durchführung finden wir jedoch an der Berliner
Kreuzigung (Fig. 29). Es ist dieselbe Szenerie. Von einem Hügel, auf dem sich der Crucifixus mit
Maria und Johannes an den Seiten erhebt und
der uns den Mittelplan der Landschaft wiede-
rum nicht vermissen lassen soll, sehen wir eine
Fernsicht, die nur eine wenig veränderte Varia-
tion der landschaftlichen Vedute ist, die in dem
Petersburger Bilde den Horizont abschließt.
Wenn wir von dem Stadtbilde absehen,
welches als eine Phantasieerfindung in den
beiden Bildern etwas verschieden ist, so ist es
sogar unzweifelhaft dieselbe Fernsicht, nur von
verschiedenen Beobachtungspunkten gesehen,
eine Fernsicht, die wir wieder in anderen Varia-
tionen an der Madonna in der Sammlung Roth-
schild und an der Louvre-Madonna beobachten
können.
«Jan aber hat sich selbst niemals wieder-
holt,» behauptet Voll, und es ist das richtig,
wenn wir nur statt wiederholt «kopiert» sagen.
Er versuchte aber unzweifelhaft öfters, ein und
dasselbe Problem an denselben oder ähnlichen
Motiven, ähnlich wie Dürer oder Rembrandt,
immer wieder neu ZU lösen. Zweimal malt er Fig. 3o. Unbekannter Meister. Ein Engel von der Kathedrale
den Kanonikus van der Pale, zweimal Giovanni zu Reims-
Arnolfini, in der Pariser Kartäuser-Madonna
beschäftigt er sich mit demselben Motiv und Problem wie in der Madonna des Kanzlers Rolin, in
der Petersburger Verkündigung mit demselben wie auf dem Mittelbilde des Dresdener Altärchens
und wie in der Kirchenmadonna und seine Frauenköpfe sind alle Werke einer Reihe, einer und der-
selben Aufgabe. Dasselbe gilt auch für unser landschaftliches Motiv, bei welchem wir so glücklich
sind, es in nicht weniger als in vier Entwicklungsphasen beobachten zu können.
Bei dem Berliner Bilde erscheint dieses Motiv in einer Form, die uns vielleicht durch ihre Alter-
tümlichkeit berechtigt, sie an den Anfang der genannten Reihe zu stellen. Die Hügelreihen, die unseren
Blick in die Tiefe leiten sollen, sind noch eng aneinander gedrängt, so daß man noch an die Kulissen-
landschaften des Trecento erinnert wird, und gar zu deutlich erkennen wir die perspektivische Mission
des Flußlaufes im Hintergrunde. In der Malweise treten uns jedoch, wenn auch vielleicht ebenfalls
noch in einer unentwickelten Gestalt, dieselben Eigentümlichkeiten entgegen wie bei anderen Land-
schaften Jans. Der Fluß im Hintergrunde und die in seiner Nähe liegenden Architekturen, der Weg,
der sich auf dem Hügel rechts zu einer Windmühle hinzieht, die Schatten und Lichter an den Bauten
des Stadtbildes, die Bäume, Sträucher, die Vögel in der Luft sind in derselben Weise und mit derselben
erstaunlichen Sicherheit durch einmalige Pinselberührung oder durch einige Striche und Linien oder
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heit einigemale im Verlaufe der Geschichte geschenkt wurden. An eine Nachahmung kann man
denken, wo es sich um ein stilistisch entwickeltes Werk handelt in einer mangelhaften Ausführung;
wo uns aber ein stilistisch unentwickeltes Werk in einer unübertrefflichen Durchführung vorliegt,
da ist die Entscheidung nicht schwer. Man rufe sich die besten Landschaften Rogiers oder jene der /
besten niederländischen Quattrocentolandschafter, des Bouts oder des Meisters von Flemalle, in Er-
innerung, man vergleiche z. B. die Petersburger Madonna mit dem heil. Lukas von Rogier, mit der
Madonna des Kanzlers Rolin und man wird leicht erkennen, wie unnachahmlich und einzig die ge-
schilderte spielend leichte und sichere Malweise in ihrer Zeit gewesen ist.
Eine ähnliche Landschaft in derselben Durchführung finden wir jedoch an der Berliner
Kreuzigung (Fig. 29). Es ist dieselbe Szenerie. Von einem Hügel, auf dem sich der Crucifixus mit
Maria und Johannes an den Seiten erhebt und
der uns den Mittelplan der Landschaft wiede-
rum nicht vermissen lassen soll, sehen wir eine
Fernsicht, die nur eine wenig veränderte Varia-
tion der landschaftlichen Vedute ist, die in dem
Petersburger Bilde den Horizont abschließt.
Wenn wir von dem Stadtbilde absehen,
welches als eine Phantasieerfindung in den
beiden Bildern etwas verschieden ist, so ist es
sogar unzweifelhaft dieselbe Fernsicht, nur von
verschiedenen Beobachtungspunkten gesehen,
eine Fernsicht, die wir wieder in anderen Varia-
tionen an der Madonna in der Sammlung Roth-
schild und an der Louvre-Madonna beobachten
können.
«Jan aber hat sich selbst niemals wieder-
holt,» behauptet Voll, und es ist das richtig,
wenn wir nur statt wiederholt «kopiert» sagen.
Er versuchte aber unzweifelhaft öfters, ein und
dasselbe Problem an denselben oder ähnlichen
Motiven, ähnlich wie Dürer oder Rembrandt,
immer wieder neu ZU lösen. Zweimal malt er Fig. 3o. Unbekannter Meister. Ein Engel von der Kathedrale
den Kanonikus van der Pale, zweimal Giovanni zu Reims-
Arnolfini, in der Pariser Kartäuser-Madonna
beschäftigt er sich mit demselben Motiv und Problem wie in der Madonna des Kanzlers Rolin, in
der Petersburger Verkündigung mit demselben wie auf dem Mittelbilde des Dresdener Altärchens
und wie in der Kirchenmadonna und seine Frauenköpfe sind alle Werke einer Reihe, einer und der-
selben Aufgabe. Dasselbe gilt auch für unser landschaftliches Motiv, bei welchem wir so glücklich
sind, es in nicht weniger als in vier Entwicklungsphasen beobachten zu können.
Bei dem Berliner Bilde erscheint dieses Motiv in einer Form, die uns vielleicht durch ihre Alter-
tümlichkeit berechtigt, sie an den Anfang der genannten Reihe zu stellen. Die Hügelreihen, die unseren
Blick in die Tiefe leiten sollen, sind noch eng aneinander gedrängt, so daß man noch an die Kulissen-
landschaften des Trecento erinnert wird, und gar zu deutlich erkennen wir die perspektivische Mission
des Flußlaufes im Hintergrunde. In der Malweise treten uns jedoch, wenn auch vielleicht ebenfalls
noch in einer unentwickelten Gestalt, dieselben Eigentümlichkeiten entgegen wie bei anderen Land-
schaften Jans. Der Fluß im Hintergrunde und die in seiner Nähe liegenden Architekturen, der Weg,
der sich auf dem Hügel rechts zu einer Windmühle hinzieht, die Schatten und Lichter an den Bauten
des Stadtbildes, die Bäume, Sträucher, die Vögel in der Luft sind in derselben Weise und mit derselben
erstaunlichen Sicherheit durch einmalige Pinselberührung oder durch einige Striche und Linien oder
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