Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.
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Vorbildern angeschlossen hat. Nach der Entlehnung einzelner landschaftlichen und architektonischen
Motive folgt bald eine Übernahme des ganzen giottesken Systems der räumlichen Darstellung, so daß
wir beiläufig um das Jahr i38o überall in der französischen Malerei Darstellungen von
Landschaften und Innenräumen finden können, die entweder ganz und gar aus
Italien stammen oder doch nach ähnlichen Regeln und Erfahrungssätzen erfunden
wurden wie ihre italienischen
Vorbilder.
Ahnlich verhält es sich auch
mit der Erfindung der Kompositio-
nen. Bei dem großen Interesse,
welches die giottesken Komposi-
tionen durch ihren dramatischen
Inhalt und poetischen Reiz in uns
zu erwecken vermögen, vergessen
wir gar zu leicht, welch eine un-
geheure Bedeutung sie für die Ge-
schichte der formalen Probleme der
Malerei und Plastik besitzen. Die
einzige Regel, welche einen Maler
der älteren gotischen Periode bei
der Erfindung einer Komposition
geleitet hat, war die Bemühung,
die Erzählung möglichst deutlich
und erschöpfend wiederzugeben.
Daß aus dem Verhältnis der dar-
gestellten Szene zu dem sie um-
gebenden Räume auch irgend-
welche Anforderungen an die Ge-
staltung der Komposition entstehen
können, blieb ihm unbewußt und,
wo es ihm bewußt wurde, mangel-
ten ihm zumeist die Mittel, dieser
Anforderung zu entsprechen. Es
ist auch ein antikes Erbe, welches
zunächst in der italienischen Male-
rei in dieser Beziehung eine Ände-
rung hervorgerufen hat. So einfach
und rudimentär uns die Kompo-
sitionen Duccios oder Simone Mar-
tinis auch erscheinen mögen, sie
setzen doch die ganze antike Ent-
wicklung der Bilder- und Relief-
komposition voraus, das heißt, alles das, was sich zwischen der Alexanderschlacht von Neapel und den
Reliefs des Titusbogens vollzogen hat.
Wie die byzantinisch-giottesken Landschaften und Innenräume als ein kurzer Bericht über den
langen Weg erscheinen, welchen die antike Malerei zurückgelegt hat, so wird auch bei den giottesken
figuralen Kompositionen der aufmerksame Beobachter Prinzipien entdecken, die als ein für beschei-
dene Kräfte hergerichtetes Kompendium der spätantiken Art, Bilder und Reliefs zu komponieren, be-
trachtet werden könnten. An spätantike Reliefs erinnert die giotteske Art und Weise, einen aus dem
Fig. 41.
Werkstatt des Jaquemart de Hesdin, Kreuztragung Chnsti.
Ms. 11.060 der königl. Bibliothek
Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry
in Brüssel.
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Vorbildern angeschlossen hat. Nach der Entlehnung einzelner landschaftlichen und architektonischen
Motive folgt bald eine Übernahme des ganzen giottesken Systems der räumlichen Darstellung, so daß
wir beiläufig um das Jahr i38o überall in der französischen Malerei Darstellungen von
Landschaften und Innenräumen finden können, die entweder ganz und gar aus
Italien stammen oder doch nach ähnlichen Regeln und Erfahrungssätzen erfunden
wurden wie ihre italienischen
Vorbilder.
Ahnlich verhält es sich auch
mit der Erfindung der Kompositio-
nen. Bei dem großen Interesse,
welches die giottesken Komposi-
tionen durch ihren dramatischen
Inhalt und poetischen Reiz in uns
zu erwecken vermögen, vergessen
wir gar zu leicht, welch eine un-
geheure Bedeutung sie für die Ge-
schichte der formalen Probleme der
Malerei und Plastik besitzen. Die
einzige Regel, welche einen Maler
der älteren gotischen Periode bei
der Erfindung einer Komposition
geleitet hat, war die Bemühung,
die Erzählung möglichst deutlich
und erschöpfend wiederzugeben.
Daß aus dem Verhältnis der dar-
gestellten Szene zu dem sie um-
gebenden Räume auch irgend-
welche Anforderungen an die Ge-
staltung der Komposition entstehen
können, blieb ihm unbewußt und,
wo es ihm bewußt wurde, mangel-
ten ihm zumeist die Mittel, dieser
Anforderung zu entsprechen. Es
ist auch ein antikes Erbe, welches
zunächst in der italienischen Male-
rei in dieser Beziehung eine Ände-
rung hervorgerufen hat. So einfach
und rudimentär uns die Kompo-
sitionen Duccios oder Simone Mar-
tinis auch erscheinen mögen, sie
setzen doch die ganze antike Ent-
wicklung der Bilder- und Relief-
komposition voraus, das heißt, alles das, was sich zwischen der Alexanderschlacht von Neapel und den
Reliefs des Titusbogens vollzogen hat.
Wie die byzantinisch-giottesken Landschaften und Innenräume als ein kurzer Bericht über den
langen Weg erscheinen, welchen die antike Malerei zurückgelegt hat, so wird auch bei den giottesken
figuralen Kompositionen der aufmerksame Beobachter Prinzipien entdecken, die als ein für beschei-
dene Kräfte hergerichtetes Kompendium der spätantiken Art, Bilder und Reliefs zu komponieren, be-
trachtet werden könnten. An spätantike Reliefs erinnert die giotteske Art und Weise, einen aus dem
Fig. 41.
Werkstatt des Jaquemart de Hesdin, Kreuztragung Chnsti.
Ms. 11.060 der königl. Bibliothek
Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry
in Brüssel.