Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.
Der erste naturalistische Stil. Eine Überwindung dieser Schulen und des Italianismus be-
deutet aber der dritte und letzte Stil der spätgotischen Malerei in Frankreich. Um uns seine Grund-
lagen und Eigentümlichkeiten klar zu machen, wenden wir uns zu einem Kunstwerke, welches sich zu
einer solchen Analyse besonders eignet.
Es ist dies das berühmte Gebetbuch des Herzogs von Berry in Chantilly. Nach einer Nachricht
in dem Nachlaßinventare des Herzogs waren diese tres riches heures ein Werk Pols von Limburg und
seiner zwei Brüder Herman und Jannequin und waren noch unvollendet, als der Herzog im Jahre
1416 starb. Die fehlenden Teile
wurden erst eine Generation später
ergänzt, so daß kein Zweifel sein
kann, welche Bilder der Hand-
schrift wir den Brüdern von Lim-
burg zuschreiben und vor das Jahr
1416 datieren müssen.
Was jedem zunächst auf-
fallen dürfte, der die Handschrift
durchblättert, ist der autfallend
italienische Charakter einzelner
Bilder. Man betrachte z. B. nur
die Kreuztragung Christi (Fig. 42):
Fast könnte es uns scheinen, als
ob der italienische Einfluß da noch
viel stärker wäre als bei Werken
der vorangehenden Stilperiode. Es
kann auch kein Zweifel sein, daß
der Maler dieser Miniaturen noch
unmittelbare Anregungen durch
italienische Vorbilder empfangen
hat. So hat man bereits mit Recht
darauf aufmerksam gemacht, daß
eines der Bilder, die Darstellung des
Tempelganges Marias, in der Kom-
position vollkommen mit einem
Fresko Taddeo Gaddis in Sta.
Croce in Florenz übereinstimmt.
Darin macht sich also noch der-
selbe Prozeß bemerkbar, welchen
wir in der vorangehenden französi-
schen Malerei beobachten konnten.
Es ist jedoch nicht schwer zu erkennen, daß dabei die Vorbilder nicht dieselben gewesen sind
wie die, welche in der vorangehenden Zeit in Frankreich eingewirkt haben, nicht Bilder Giottos oder
seiner sienesischen Zeitgenossen sondern italienische Werke aus der zweiten Hälfte des XIV. Jahr-
hunderts.
Auch in Italien blieb die Entwicklung der Malerei im Trecento nicht stehen, wie wir bereits ein-
mal betonten. Besonders in der Durchbildung des traditionellen Systems und aller Probleme, die mit
der Raumdarstellung zusammenhängen, und in der reicheren Ausgestaltung der Kompositionen sind
die Schüler Giottos und noch mehr die späteren sienesischen Meister weit über ihre Lehrer hinaus-
gekommen. Diese letzten Errungenschaften der giottesken Malerei in Italien übernahm man also auch
im Norden, doch nicht als eine schülerhafte Nachahmung mehr sondern mit dem vollen Bewußtsein
Fig. 42. Werkstatt der Brüder von Limburg, Kreuztragung Christi.
Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry in Chantilly.
Der erste naturalistische Stil. Eine Überwindung dieser Schulen und des Italianismus be-
deutet aber der dritte und letzte Stil der spätgotischen Malerei in Frankreich. Um uns seine Grund-
lagen und Eigentümlichkeiten klar zu machen, wenden wir uns zu einem Kunstwerke, welches sich zu
einer solchen Analyse besonders eignet.
Es ist dies das berühmte Gebetbuch des Herzogs von Berry in Chantilly. Nach einer Nachricht
in dem Nachlaßinventare des Herzogs waren diese tres riches heures ein Werk Pols von Limburg und
seiner zwei Brüder Herman und Jannequin und waren noch unvollendet, als der Herzog im Jahre
1416 starb. Die fehlenden Teile
wurden erst eine Generation später
ergänzt, so daß kein Zweifel sein
kann, welche Bilder der Hand-
schrift wir den Brüdern von Lim-
burg zuschreiben und vor das Jahr
1416 datieren müssen.
Was jedem zunächst auf-
fallen dürfte, der die Handschrift
durchblättert, ist der autfallend
italienische Charakter einzelner
Bilder. Man betrachte z. B. nur
die Kreuztragung Christi (Fig. 42):
Fast könnte es uns scheinen, als
ob der italienische Einfluß da noch
viel stärker wäre als bei Werken
der vorangehenden Stilperiode. Es
kann auch kein Zweifel sein, daß
der Maler dieser Miniaturen noch
unmittelbare Anregungen durch
italienische Vorbilder empfangen
hat. So hat man bereits mit Recht
darauf aufmerksam gemacht, daß
eines der Bilder, die Darstellung des
Tempelganges Marias, in der Kom-
position vollkommen mit einem
Fresko Taddeo Gaddis in Sta.
Croce in Florenz übereinstimmt.
Darin macht sich also noch der-
selbe Prozeß bemerkbar, welchen
wir in der vorangehenden französi-
schen Malerei beobachten konnten.
Es ist jedoch nicht schwer zu erkennen, daß dabei die Vorbilder nicht dieselben gewesen sind
wie die, welche in der vorangehenden Zeit in Frankreich eingewirkt haben, nicht Bilder Giottos oder
seiner sienesischen Zeitgenossen sondern italienische Werke aus der zweiten Hälfte des XIV. Jahr-
hunderts.
Auch in Italien blieb die Entwicklung der Malerei im Trecento nicht stehen, wie wir bereits ein-
mal betonten. Besonders in der Durchbildung des traditionellen Systems und aller Probleme, die mit
der Raumdarstellung zusammenhängen, und in der reicheren Ausgestaltung der Kompositionen sind
die Schüler Giottos und noch mehr die späteren sienesischen Meister weit über ihre Lehrer hinaus-
gekommen. Diese letzten Errungenschaften der giottesken Malerei in Italien übernahm man also auch
im Norden, doch nicht als eine schülerhafte Nachahmung mehr sondern mit dem vollen Bewußtsein
Fig. 42. Werkstatt der Brüder von Limburg, Kreuztragung Christi.
Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry in Chantilly.