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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0289
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Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.

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ä ce compte, ce serait l'obscur Pol de Limbourg, non plus l'illustre Hubert van Eyck.» Ein Schrift-
steller, dessen Blick sonst bei den Archivschätzen haften blieb, wagte also nicht einer unanfecht-
baren dokumentarischen Nachricht Glauben zu schenken, um nicht den alten Glauben an einen Gegen-
satz zwischen der alten und neuen Kunst aufgeben zu müssen.

Müntz ist da in zweifachem Irrtume: Erstens, wenn er glaubt, daß die Miniaturen des Gebet-
buches von Chantilly stilistisch bereits so vorgeschritten seien wie die Werke Jans, so daß wir sie als
eine Nachahmung der Werke des letzteren betrachten könnten. Zweitens, wenn er glaubt, falls das
letztere nicht der Fall wäre, den obskuren Illuminator auf das Piedestal erheben zu müssen, auf welches
bisher Jan van Eyck gestellt wurde. Trotz der starken naturalistischen Tendenz ist der trecenteske Ur-
sprung des Stiles der Brüder von Limburg unverkennbar. Während wir an den Werken Jan van Eycks
und seiner Nachfolger eine bis zu den letzten Einzelnheiten treue Wiedergabe der Natur beobachten
konnten, besteht der Naturalismus der Brüder von Limburg noch immer in einem Kompromisse zwischen
traditionellen Kunstformen und individuellen Naturbeobachtungen. Wie in gleichzeitigen Gedichten,
wie z. B. im Meliador des Froissard, die alte Form der Ritter-
romane durch einzelne subjektive Erwägungen und psycholo-
gische Begründungen durchdrungen wird, so dringt auch in
den Miniaturen des Gebetbuches von Chantilly durch die mittel-
alterlichen und giottesk-byzantinischen Schemen eine neue An-
schauung und ihr entsprechende Darstellung. Eugene Müntz
ist jedoch grundlos vor dem Gedanken zurückgeschreckt, die
Entdeckung dieser neuen Anschauung einem in der kunst-
geschichtlichen Literatur wenig genannten Büchermaler zu-
schreiben zu müssen. Er hätte bis in die Zeit des heil. Ludwig
zurückgehen müssen, um bis zu den Anfängen der naturalisti-
schen Prinzipien zu gelangen, auf welchen der Stil der Illumi-
natoren des Gebetbuches beruht. Wie die Schrift, die Ein-
teilung und Anordnung des Blattschmuckes, die Eigentümlich-
keiten der Zeichnung und kompositioneilen Erfindung, sofern
sie nicht unmittelbar durch giotteske Vorbilder beeinflußt wur-
den, die technischen und koloristischen Gewohnheiten, die
Ornamentik, kurz alle allgemeinen stilistischen Merkmale der
Miniaturen von Chantilly auf die Entwicklung der ganzen
vorangehenden französischen Büchermalerei zurückgeführt
werden können, so beruht auch der Naturalismus dieser Male-
reien sowohl seiner Tendenz und seinen Aufgaben als auch seinen Lösungen nach auf der ganzen
Geschichte der französischen gotischen Kunst. Es ist dieselbe Tendenz, die in den Königsstatuen von
St. Denis, in den Skulpturen von Amiens, in dem Porträte Johanns des Guten ein halbes Jahrhundert
früher Werke von einer täuschenden Realität geschaffen hat, die schon in dem zweiten italienischen
Stile das Ubergewicht bekam und die nun, nachdem die französische Malerei die Errungen-
schaften der Italiener in sich aufgenommen hatte, mit neuer Kraft hervortritt, die
entlehnten Schemen in hundertfache Beobachtungen umsetzend und einen maleri-
schen Stil schaffend, der als der Höhepunkt der gotischen Malerei bezeichnet wer-
den kann.

Eine andere, und zwar eine ältere von den Brüdern von Limburg mit Bildern geschmückte Hand-
schrift läßt uns die Quellen ihrer Kunst noch deutlicher erkennen. Es ist dies eine große Bilderbibel
in der Pariser Nationalbibliothek,1 deren Miniaturen eine solche Verwandtschaft mit den Bildern des
Gebetbuches von Chantilly aufweisen, daß man sie unbedenklich ebenfalls für ein Werk der Brüder

Fig. 45. Werkstatt der Brüder von Limburg.

Miniatur aus der Bibel Ms. fr. 166 der Pariser
Nationalbibliothek.

Ms. fr. 166.

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