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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0294
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288

Max Dvofäk.

Europas ein, in der Toskana und in den burgundischen Provinzen. In der Toskana war im XV. Jahr-
hundert fast der ganze Geldhandel Europas konzentriert und dort mündet auch die ganze vorangehende
kulturelle Entwicklung Italiens; in den burgundischen Provinzen finden wir fast die ganze Industrie
Europas und alles, was als das Resultat der kulturellen Entwicklung des Nordens betrachtet werden
kann. Die Bedeutung Toskanas für die Geschichte der Kultur und Zivilisation ist bekannt, die Be-
deutung der burgundischen Provinzen wird nur manchmal in wirtschaftsgeschichtlichen Büchern her-
vorgehoben, die niemand in der Welt liest.

Es ist natürlich schwer, in kurzen Andeutungen diese Bedeutung zu erschöpfen oder den ihr
zugrunde liegenden geschichtlichen Verlauf zu schildern, doch immerhin wollen wir es versuchen.
Wenn man von der Bedeutung der Niederlande sprach, so tat man es in der Weise, daß man sie vor
allem als einen Aufschwung der Kommunen schilderte. Man faßte den Sachverhalt so auf, daß die
bürgerliche Gesellschaft damals «aufgekommen sei», sich emanzipierte, und spricht von einer neuen
bürgerlichen Kultur, die sich in den Niederlanden früher als anderswo entwickelte. Man begnügte sich
dabei, auf einzelne Vorbedingungen dieser Wandlung hinzuweisen. Doch woher die neue bürgerliche
Kultur kam, wie sie plötzlich entstehen konnte, das wußte man ebensowenig, als wie die Kunst der
Meister des Genter Altares entstanden ist, ja man interessierte sich nicht einmal dafür.

In Gent gab es um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts 40.000 Tuchmacher und um das
Jahr 1430 war Brügge eine bedeutendere Stadt als Paris. Die Vorbedingung eines jeden industriellen
Aufschwunges ist ein Luxusbedürfnis. Bis zum XIV. Jahrhundert kamen alle kostbaren Stoffe aus dem
Oriente; es ist das ein Beweis, wie wenig man davon brauchte. Doch wir hörten, wie sich im XIV. Jahr-
hundert in Frankreich das vollzog, was man als die Renaissance des Luxus bezeichnen könnte, womit
jedoch nicht nur die Vermehrung der äußeren Pracht sondern eine immense Steigerung aller Lebens-
bedürfnisse verstanden werden soll. Man staunt noch heute, wenn man z. B. die Beschreibung des
Schlosses zu Hesdin oder die Schilderung der Trauerfeier für den ermordeten Herzog von Orleans
liest, über die Unsummen von Arbeit und Geldmitteln, die dabei in Anspruch genommen wurden.
Diese ungeheure Steigerung der Lebensbedürfnisse, die wir als eine unmittelbare Folge der kultu-
rellen Entwicklung der französischen höfischen Gesellschaft betrachten müssen, der kulturellen Ent-
wicklung des Abendlandes, könnten wir auch sagen, mußte notwendigerweise auch einen Aufschwung
jener Kreise zur Folge haben, die für die Erfüllung dieser Bedürfnisse zu sorgen hatten. In England
wäre gewiß nicht im XIX. Jahrhundert ein neuer kunstgewerblicher Stil entstanden, wenn es dort
nicht eine Gesellschaft gegeben hätte, die Gewicht darauf legte, schöne und gute Sachen zu besitzen,
und deren Geschmack durch Generationen gebildet wurde. So ist der Aufschwung der nordfranzö-
sischen und anschließenden flämischen Gebiete bereits in seinen wirtschaftlichen Grundlagen als eine
Folge der kulturellen Entwicklung Frankreichs zu betrachten. Man wollte in der ganzen abendländi-
schen Welt so leben, wie der französische Adel lebte, und aus Arras, Lille, Yppern wurden Stoffe und
Tapisserien in ganz Europa bezogen, in Gent, Brügge war der Geldmarkt und Handelsmittelpunkt
für den ganzen Norden. Warum gerade die burgundischen Provinzen an dieser Progression teil-
genommen haben, ist aus bestimmten geschichtlichen Traditionen und aus politischen Verhält-
nissen zu erklären, mit welchen wir uns hier nicht weiter zu beschäftigen haben. Die Geschichte
eines Volkes oder einer Zeit nach ihren politischen Erfolgen zu bemessen, wäre dasselbe, als wollte
man die einzelnen Menschen nach den materiellen Erfolgen schätzen, die sie sich zu ihren Leb-
zeiten errungen haben. Betrachtet man die Geschichte der französischen Höfe zwischen i38o und
1419 nicht mit dem Auge eines Zunfthistorikers, bei dem sich der Ausgang jeder Schlacht zu einer
Manifestation der in der Geschichte waltenden Gerechtigkeit gestaltet, sondern nach dem Maßstabe
des in den trost- und ruchlosen Kämpfen der königlichen Familie angewendeten Ingeniums und
hoher persönlicher Bildung, so wird man statt des unheilvollen Familienhaders eine Tragödie finden,
wie sie Shakespeare nicht hätte größer und tragischer ersinnen können, die Tragödie des Kampfes eines
genial begabten Menschen mit dem Zufalle, der die lichten und umnachteten Augenblicke des geistes-
gestörten Königs bestimmte, eine Tragödie, in der Menschen von Macchiavellischer Kulturhöhe spielen
 
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