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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 26.1906/​1907

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I. Theil: Abhandlungen
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Seidlitz, W. von: Ambrogio Preda und Leonardo da Vinci
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https://doi.org/10.11588/diglit.5946#0043
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W. von Seidlitz.

Exemplar, hat schon Waagen, der früheste und entschiedenste Vorkämpfer für letzteres, ausgesprochen.
Was diesen Schriftsteller für das Londoner Bild einnahm, war dessen «unvergleichlich vornehmerer Aus-
druck, die größere Feinheit der Zeichnung und die meisterhafte Modellierung der Köpfe»1. Das ist
aber dieselbe subjektive Art zu urteilen, welche in der Behandlung der Leonardofrage bisher überhaupt
vielfach geherrscht hat und durch ein entgegenstehendes Urteil ebensogut wieder einmal umgestoßen
werden kann, ohne daß dadurch festerer Boden gewonnen wäre. Auch bei einer eingehenden Begrün-
dung, wie sie Müller-Walde (Leonardo 114) einerseits und Koopmann (Repertorium 1891, 356) ander-
seits versucht haben, können die Meinungen, wie die Tatsachen es beweisen, weit auseinander gehen.

Immerhin dürfte den Bemerkungen, die

Koopmann als Mediziner macht, ein ge-
wisses Gewicht und eine größere Überzeu-
gungskraft nicht abzusprechen sein. Dar-
über, ob das Fortlassen der hinweisenden
Hand des Engels, auf dem Londoner Exem-
plar, eine Verbesserung bedeute, wird man
wohl vergeblich hin- und herstreiten (immer-
hin erscheint es ganz überflüssig, daß dieser
Engel dort das Kind noch mit seiner Rech-
ten hält, da er es doch schon mit seiner
Linken genügend stützt); auch über den
Wert all' der kleinen Änderungen, die in
Bezug auf die Bewegungen der übrigen Ge-
stalten vorgenommen worden sind, wird
sich sehr verschiedenes äußern lassen; aber
die folgenden Beobachtungen Koopmanns
scheinen doch durchaus beachtenswert zu
sein (am besten auf den beiden von Müller -
Walde zu S. 106 gegebenen Abbildungen
zu verfolgen): auf dem Londoner Exemplar
ist das Augenlid der Maria schwer, dick ge-
randet und starr; die anatomische Gliede-
rung ihrer linken Hand unbestimmt und
knochenlos; am Mittelfinger des kleinen Jo-
hannes das zweite Glied länger als das erste;
das Fleisch des linken Oberschenkels des

Fig. 17. Frauenkopf. Christkindes schwammig und wulstig; die

Windsor, Nr. 5o. Haarbehandlung überhaupt schablonen-

mäßig.

Das alles sind Eigenschaften, die im allgemeinen für Preda bezeichnend erscheinen, und wenn
man nun noch den Umstand hinzunimmt, daß die (S. 3i unten) erwähnten Vorzeichnungen für das
Bild ihm angehören, so bleibt nur der Schluß übrig, daß er dieses zweite Exemplar in London auch
wirklich ausgeführt habe, und zwar als Kopie nach dem schon einige Jahre früher angefertigten Ori-
ginal Leonardos.

Daß dieses Original spätestens 1494 schon fertig war, geht aus der bereits angeführten gemein-
samen Bittschrift Predas und Leonardos an Lodovico il Moro hervor. Die beiden beschweren sich
darin als Verfertiger des ganzen Altaraufbaues darüber, daß dieser Aufbau von den Bestellern, denMön-

1 «The decisive evidence, however (für die Beteiligung Leonardos), consists in the incomparably nobler expression,
in the greater delicacy of drawing, and in the masterly modelling of the heads» (Treas. III, 168).
 
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