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Hans Tietze.
Vielleicht waren es diese Verhältnisse, die Agostino veranlaßten, sich wiederum in reicherem
Maße der Malerei zuzuwenden und bei dem nächsten größeren Unternehmen der Werkstätte ■— aus-
nahmsweise — mehr zu tun, als auf seinen Teil kam; es sind das die Arbeiten im Palazzo Sampieri in
Bologna, die ich um 1593/94 setzen möchte. Die Carracci hatten den Schmuck dreier Zimmer von
mäßiger Größe zu liefern, die im Erdgeschoß des Palastes in einer Flucht liegen. Jedes Zimmer sollte
ein Deckenbild und ein Fresko auf der Mantelung des Kamines erhalten; im ersten Zimmer hat Lodo-
vico beide Stücke geliefert, im dritten ebenso Agostino, im zweiten aber ist nur das Deckengemälde
von Annibale, während sein Bruder das Kaminbild malte. Die Darstellungen sind dem Sagenkreise
des Herkules entnommen, der dem Geschmack der Zeit ja so trefflich zusagen mußte; bot er doch einer-
seits reichlich Gelegenheit zur Anknüpfung
feingesponnener allegorischer Bezüge, an-
derseits zur Schaustellung stark bewegter,
mächtig gebildeter Menschenleiber. Das
Deckenbild Annibales wird durch die Bei-
schrift: «Virtus negata tentat» deutlicher
gemacht (Fig. 5). Vom hohen steilen
Felsgrat, den er erklommen hat, strebt
der Held weiter und streckt die Hand
nach den Wolkenballen aus, die eine
göttliche Frauengestalt emporhebt. Gold-
blond ist das Haar des Helden wie das
der Göttin und zerflattert locker in die
Umgebung; goldorange ist der Gesamt-
ton, in dem die lichtvollen Gestalten ge-
halten sind, die in das Blau des Himmels
tauchen, leuchtendes Blau und Rot der
Gewänder hebt sich kräftig heraus. Freude
an koloristischen Effekten ließ das blen-
dend weiße Untergewand von der warmen
Hautfarbe der jungen Frau abstechen und
den Ubergang zum Blau ihres Mantels bil-
den. Auch wie die frei wehenden Enden
der Gewänder sich zu hobelspanförmigen
Fig. 6. Agostino Carracci, Kaminbild im Palazzo Sampieri. Windungen zusammendrehen, konnten
Boiogna wir schon bei Magnani beobachten. Wie
grundverschieden erscheint daneben Ago-
stino! (Fig. 6.) Die Aufgaben schon, die er sich stellt, zeigen eine ganz andere Art, ganz andere Ten-
denzen. Herkules im Kampfe mit Cacus, Herkules und Atlas, die Weltkugel tragend, ein himmelstür-
mender Titan, vom himmlischen Blitz getroffen, zeigen jedesmal riesenhafte Leiber in größter Anstren-
gung. Mächtige Rücken und Schultern stemmen sich gegen ungeheure Lasten, alle Muskeln sind
herausgetrieben und angespannt. Diesen Aufgaben entspricht die Ausführung, deren Hauptaugenmerk
auf die plastische Darstellung und Durchbildung gerichtet ist.
Zu so starkem Gegensatz hat sich — trotz vieler gemeinsamer Züge, die ja aus dem ähnlichen Bil-
dungsgang und den gleichen Grundprinzipien leicht erklärlich sind, — die Kunst der beiden Brüder zu
Beginn der neunziger Jahre entwickelt. Es ist hier nicht der Ort, des näheren auf sie einzugehen;
unsere Erörterungen hatten nur den Zweck, daran zu erinnern, daß wir es nicht mit dem farblosen
Begriff der Carracci zu tun haben, sondern daß es zwei Künstler von ausgesprochenem, persönlichem
Gepräge sind, die wir zur Arbeit an ihrem gemeinsamen großen Meisterwerk nach Rom ziehen
sehen.
Hans Tietze.
Vielleicht waren es diese Verhältnisse, die Agostino veranlaßten, sich wiederum in reicherem
Maße der Malerei zuzuwenden und bei dem nächsten größeren Unternehmen der Werkstätte ■— aus-
nahmsweise — mehr zu tun, als auf seinen Teil kam; es sind das die Arbeiten im Palazzo Sampieri in
Bologna, die ich um 1593/94 setzen möchte. Die Carracci hatten den Schmuck dreier Zimmer von
mäßiger Größe zu liefern, die im Erdgeschoß des Palastes in einer Flucht liegen. Jedes Zimmer sollte
ein Deckenbild und ein Fresko auf der Mantelung des Kamines erhalten; im ersten Zimmer hat Lodo-
vico beide Stücke geliefert, im dritten ebenso Agostino, im zweiten aber ist nur das Deckengemälde
von Annibale, während sein Bruder das Kaminbild malte. Die Darstellungen sind dem Sagenkreise
des Herkules entnommen, der dem Geschmack der Zeit ja so trefflich zusagen mußte; bot er doch einer-
seits reichlich Gelegenheit zur Anknüpfung
feingesponnener allegorischer Bezüge, an-
derseits zur Schaustellung stark bewegter,
mächtig gebildeter Menschenleiber. Das
Deckenbild Annibales wird durch die Bei-
schrift: «Virtus negata tentat» deutlicher
gemacht (Fig. 5). Vom hohen steilen
Felsgrat, den er erklommen hat, strebt
der Held weiter und streckt die Hand
nach den Wolkenballen aus, die eine
göttliche Frauengestalt emporhebt. Gold-
blond ist das Haar des Helden wie das
der Göttin und zerflattert locker in die
Umgebung; goldorange ist der Gesamt-
ton, in dem die lichtvollen Gestalten ge-
halten sind, die in das Blau des Himmels
tauchen, leuchtendes Blau und Rot der
Gewänder hebt sich kräftig heraus. Freude
an koloristischen Effekten ließ das blen-
dend weiße Untergewand von der warmen
Hautfarbe der jungen Frau abstechen und
den Ubergang zum Blau ihres Mantels bil-
den. Auch wie die frei wehenden Enden
der Gewänder sich zu hobelspanförmigen
Fig. 6. Agostino Carracci, Kaminbild im Palazzo Sampieri. Windungen zusammendrehen, konnten
Boiogna wir schon bei Magnani beobachten. Wie
grundverschieden erscheint daneben Ago-
stino! (Fig. 6.) Die Aufgaben schon, die er sich stellt, zeigen eine ganz andere Art, ganz andere Ten-
denzen. Herkules im Kampfe mit Cacus, Herkules und Atlas, die Weltkugel tragend, ein himmelstür-
mender Titan, vom himmlischen Blitz getroffen, zeigen jedesmal riesenhafte Leiber in größter Anstren-
gung. Mächtige Rücken und Schultern stemmen sich gegen ungeheure Lasten, alle Muskeln sind
herausgetrieben und angespannt. Diesen Aufgaben entspricht die Ausführung, deren Hauptaugenmerk
auf die plastische Darstellung und Durchbildung gerichtet ist.
Zu so starkem Gegensatz hat sich — trotz vieler gemeinsamer Züge, die ja aus dem ähnlichen Bil-
dungsgang und den gleichen Grundprinzipien leicht erklärlich sind, — die Kunst der beiden Brüder zu
Beginn der neunziger Jahre entwickelt. Es ist hier nicht der Ort, des näheren auf sie einzugehen;
unsere Erörterungen hatten nur den Zweck, daran zu erinnern, daß wir es nicht mit dem farblosen
Begriff der Carracci zu tun haben, sondern daß es zwei Künstler von ausgesprochenem, persönlichem
Gepräge sind, die wir zur Arbeit an ihrem gemeinsamen großen Meisterwerk nach Rom ziehen
sehen.