68
Hans Tietze.
gezeichnet und sie straffer gestaltet. Am auffallendsten ist der Unterschied bei der Gestalt des Herkules
selbst; im ursprünglichen Entwürfe ist die rechte Hand ziemlich weit vom Kopfe entfernt und scheint
die Last nur mit den Fingern zu stutzen. Viel sicherer ist der Griff bei der Zeichnung 7206 des Louvre;
die Hand setzt unmittelbar über dem Kopfe an und erhält durch ihn eine Stütze; auch die Bauchmuskeln,
die sich vor Anstrengung zusammenziehen, und die Beine sind trotz der flüchtigen Ausführung viel
ausdrucksvoller. In ähnlicher Weise ist der Astronom links auf dem Louvreblatte 7327 und der andere
auf der Zeichnung 733i studiert; auf dem letzten Blatte finden sich auch Detailstudien für die Falten-
gebung und den in starker Verkürzung gesehenen vorgestreckten linken Fuß.1
In den großen Lünetten an den Stirnseiten des Zimmers sind zwei Szenen aus dem Odysseus-
mythus dargestellt: das Abenteuer mit den Sirenen und das mit Circe. Auf dem ersten Bilde nimmt
das prachtvolle Ruderboot beinahe die ganze Breite der Lünette ein; mit mächtigen Schlägen treiben
die halbnackten Ruderer das Schiff vorwärts und blicken neugierig zu den drei mit Vogelflügeln und
-beinen versehenen Sirenen hinüber, gegen deren Zauber sie ja gefeit sind. Odysseus steht in der Mitte
und zerrt wütend an den Stricken,
mit denen er an den Mastbaum ge-
fesselt ist.2 Hier hat Annibale noch
besonders die mächtigen Bewegun-
gen der Ruderer klarmachen wollen;
Zeugnis davon legen zwei Blätter im
Louvre ab, 7324, eine schöne Koh-
lenzeichnung mit den beiden Män-
nern an der Spitze des Schiffes, und
7334 mit dem Ruderer hinter Odys-
Fig. 10. Annibale Garracci, Odysseus vor Circe. seus. Auch für die drei Sirenen liegt
Rom, Paiazzo Farnese. eine Kohlenzeichnung in Windsor
vor; die Stellung der drei ist wenig
geändert, nur spielen alle drei Flöte, während sie auf dem Bilde zu dem anmutigeren Lockmittel des
Singens gegriffen haben.3
Zahlreicher sind die Studien zu dem Bilde, das Odysseus vor Circe darstellt (Fig. 10).
Die Zauberin sitzt in einer prächtigen Pfeilerhalle auf einem verzierten Postament. Mit der Rechten hält
sie die magische Rute, während sie mit der andern Hand dem Helden den Zaubertrank kredenzt. Odysseus greift
nach der Schale, von hinten aber naht sich — den Anwesenden unsichtbar — Merkur und schüttet ein Gegen-
mittel in das Gebräu. Rechts liegt einer von des Odysseus Gefährten, an dem die Metamorphose sich bereits voll-
zogen hat, ein nackter Mann mit einem Eberkopf.
Die Notwendigkeit der zahlreichen Studien ergibt sich aus der komplizierten Aufgabe; galt es
doch, Wirkung und Gegenwirkung, den Anschlag und seine Vereitlung in einer einzigen Komposition
1 Daß Herkules die Weltkugel mit der einen Hand hält und ihr mit der andern eine Drehung erteilt, wie Navenne
a. a. O., p. 169, annimmt, scheint mir nicht wahrscheinlich zu sein. — Den Karton zu diesem Bilde besaß Carlo Maratta
und Angeloni soll in seiner berühmten Sammlung von Carraccizeichnungen, die ja nach seiner eigenen Angabe (La Historia
Augusta, Rom 1641, 251) 600 Stück umfaßt haben soll, 20 Studien zu diesem Herkules besessen haben (Vittoria, Osser-
vazioni, p. 52).
2 Eine Zeichnung zu der Figur des Odysseus besaß Vittoria, a. a. O. 52, zwei weitere Zeichnungen zu demselben
Bilde Maratta.
3 Die Sirenen werden zu dieser Zeit — wie schon während des ganzen Mittelalters — entweder als Zwitterwesen, die
in einen Fischleib auslaufen, oder als solche mit einem Vogelunterleib aufgefaßt; in Vincenzo Cartaris «Le imagini dei dei de
gli antichi», Venedig 1571, das nach der Angabe im Vorwort die Absicht hatte «di giovare non poco alli dipintori et a gli scul-
tori, dando loro argomento di mille belle inventioni da potere adornare le loro statoe e le dipinte tavole», heißt es von
den Sirenen: «Dalle Nereide non sono dissimili molto le Sirene, perche di. loro raccontano le favole, che hanno parimente il viso
di donna, et il resto dei corpo anchora, sc non che dal mezzo in giü diventano pesce, e Ii fanno alcuni con le ali e vi aggi-
ungono gli piedi di gallo» (p. 244). Vielleicht lag Annibale ein antikes Vorbild vor; auf einer Gemme (Baumeister, Abb. 1645,
und Tischbein, Homer nach Antiken, Heft 8, S. Ii) sind drei vogelbeinige Sirenen in sehr ähnlicher Haltung und mit Zither,
Doppelflöte und Harfe versehen, dargestellt und ähnlich auf Aschenkisten von Volterra (Overbeck, 32, 14).
Hans Tietze.
gezeichnet und sie straffer gestaltet. Am auffallendsten ist der Unterschied bei der Gestalt des Herkules
selbst; im ursprünglichen Entwürfe ist die rechte Hand ziemlich weit vom Kopfe entfernt und scheint
die Last nur mit den Fingern zu stutzen. Viel sicherer ist der Griff bei der Zeichnung 7206 des Louvre;
die Hand setzt unmittelbar über dem Kopfe an und erhält durch ihn eine Stütze; auch die Bauchmuskeln,
die sich vor Anstrengung zusammenziehen, und die Beine sind trotz der flüchtigen Ausführung viel
ausdrucksvoller. In ähnlicher Weise ist der Astronom links auf dem Louvreblatte 7327 und der andere
auf der Zeichnung 733i studiert; auf dem letzten Blatte finden sich auch Detailstudien für die Falten-
gebung und den in starker Verkürzung gesehenen vorgestreckten linken Fuß.1
In den großen Lünetten an den Stirnseiten des Zimmers sind zwei Szenen aus dem Odysseus-
mythus dargestellt: das Abenteuer mit den Sirenen und das mit Circe. Auf dem ersten Bilde nimmt
das prachtvolle Ruderboot beinahe die ganze Breite der Lünette ein; mit mächtigen Schlägen treiben
die halbnackten Ruderer das Schiff vorwärts und blicken neugierig zu den drei mit Vogelflügeln und
-beinen versehenen Sirenen hinüber, gegen deren Zauber sie ja gefeit sind. Odysseus steht in der Mitte
und zerrt wütend an den Stricken,
mit denen er an den Mastbaum ge-
fesselt ist.2 Hier hat Annibale noch
besonders die mächtigen Bewegun-
gen der Ruderer klarmachen wollen;
Zeugnis davon legen zwei Blätter im
Louvre ab, 7324, eine schöne Koh-
lenzeichnung mit den beiden Män-
nern an der Spitze des Schiffes, und
7334 mit dem Ruderer hinter Odys-
Fig. 10. Annibale Garracci, Odysseus vor Circe. seus. Auch für die drei Sirenen liegt
Rom, Paiazzo Farnese. eine Kohlenzeichnung in Windsor
vor; die Stellung der drei ist wenig
geändert, nur spielen alle drei Flöte, während sie auf dem Bilde zu dem anmutigeren Lockmittel des
Singens gegriffen haben.3
Zahlreicher sind die Studien zu dem Bilde, das Odysseus vor Circe darstellt (Fig. 10).
Die Zauberin sitzt in einer prächtigen Pfeilerhalle auf einem verzierten Postament. Mit der Rechten hält
sie die magische Rute, während sie mit der andern Hand dem Helden den Zaubertrank kredenzt. Odysseus greift
nach der Schale, von hinten aber naht sich — den Anwesenden unsichtbar — Merkur und schüttet ein Gegen-
mittel in das Gebräu. Rechts liegt einer von des Odysseus Gefährten, an dem die Metamorphose sich bereits voll-
zogen hat, ein nackter Mann mit einem Eberkopf.
Die Notwendigkeit der zahlreichen Studien ergibt sich aus der komplizierten Aufgabe; galt es
doch, Wirkung und Gegenwirkung, den Anschlag und seine Vereitlung in einer einzigen Komposition
1 Daß Herkules die Weltkugel mit der einen Hand hält und ihr mit der andern eine Drehung erteilt, wie Navenne
a. a. O., p. 169, annimmt, scheint mir nicht wahrscheinlich zu sein. — Den Karton zu diesem Bilde besaß Carlo Maratta
und Angeloni soll in seiner berühmten Sammlung von Carraccizeichnungen, die ja nach seiner eigenen Angabe (La Historia
Augusta, Rom 1641, 251) 600 Stück umfaßt haben soll, 20 Studien zu diesem Herkules besessen haben (Vittoria, Osser-
vazioni, p. 52).
2 Eine Zeichnung zu der Figur des Odysseus besaß Vittoria, a. a. O. 52, zwei weitere Zeichnungen zu demselben
Bilde Maratta.
3 Die Sirenen werden zu dieser Zeit — wie schon während des ganzen Mittelalters — entweder als Zwitterwesen, die
in einen Fischleib auslaufen, oder als solche mit einem Vogelunterleib aufgefaßt; in Vincenzo Cartaris «Le imagini dei dei de
gli antichi», Venedig 1571, das nach der Angabe im Vorwort die Absicht hatte «di giovare non poco alli dipintori et a gli scul-
tori, dando loro argomento di mille belle inventioni da potere adornare le loro statoe e le dipinte tavole», heißt es von
den Sirenen: «Dalle Nereide non sono dissimili molto le Sirene, perche di. loro raccontano le favole, che hanno parimente il viso
di donna, et il resto dei corpo anchora, sc non che dal mezzo in giü diventano pesce, e Ii fanno alcuni con le ali e vi aggi-
ungono gli piedi di gallo» (p. 244). Vielleicht lag Annibale ein antikes Vorbild vor; auf einer Gemme (Baumeister, Abb. 1645,
und Tischbein, Homer nach Antiken, Heft 8, S. Ii) sind drei vogelbeinige Sirenen in sehr ähnlicher Haltung und mit Zither,
Doppelflöte und Harfe versehen, dargestellt und ähnlich auf Aschenkisten von Volterra (Overbeck, 32, 14).