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Hans Tietze.
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In den Lünetten der den Fenstern gegenüberliegenden Wand ist die Sage von Anfinomus und
Anapus und der Tod der Medusa dargestellt; die Lünetten über den Fenstern sind durch deren Höhe
etwas verkürzt; in jeder sehen wir einen fliegenden weiblichen Genius mit einem Lorbeerkranz in der
Hand. Bei diesen Bildern ist es mir mangels von Zeichnungen nicht möglich, das Werden der Kom-
position zu verfolgen; mir ist nur eine Studie zu dem erstgenannten Bilde in Windsor (II, 32) bekannt.1
Im einzelnen werden wir bei diesen Bildern des «Camerino» oft an Correggio und seine Schule
erinnert; aber auch die Gesamtidee der Dekoration hat dort angeknüpft und Araldis prächtige Decken-
Fig. 12. Annibale Carracci, Kohlenzeichnung zu dem Bild: Odysseus vor Circe.
Louvre.
maierei im Dome von Parma war Annibales nächstes Vorbild. Trotz dieser correggesken Reminiszenzen
im ganzen und im einzelnen machen sich neue Züge geltend. Die zahlreichen Studien zu den Bildern
zeigen, was für Fragen den Künstler zu beschäftigen beginnen; ein neuerwachtes Interesse an der Form
spricht sich darinnen aus. Anekdoten erzählen uns von dem fanatischen Eifer, mit dem Annibale nach der
Antike studierte;2 schon hier, am Anfang dieser Entwicklung, werden wir geneigt sein, wenigstens den
Kern dieser Erzählungen zu glauben. Die Proportionen der Gestalten sind verändert; die Leiber werden
überlang, der Kopf ist klein; der Herkules auf dem Atlasbilde oder auf dem Bilde, das ihn ruhend zeigt,
gibt uns einen deutlichen Fingerzeig, woher diese Änderung stammt; der Eindruck des farnesischen
Vortrage gebracht. Die Komposition geht auf ein Fresko des Tibaldi im ehemaligen Palazzo Poggi (jetzt Universität) in
Bologna zurück (abgebildet bei Zanotti, Le Pitture di Pellegrino Tibaldi. . . nell'Instituto di Bologna, 1756); der dargestellte
Moment ist derselbe, die Geste des Odysseus ist identisch, auch die sich verwandelnden Gefährten stimmen bis ins Detail
überein. Daß Annibale den betreffenden Saal genau kannte, werden wir später hervorzuheben haben.
1 Den Karton zum ruhenden Herkules besaß Maratta; in seiner Sammlung befand sich auch eine Zeichnung zu Anfi-
nomus und Anapus. Bei Bellori befanden sich zwei Zeichnungen zum Herkules am Scheidewege und eine zum Perseus, der
die Medusa tötet (Vittoria, p. 52).
2 Bellori, p. 9.
Hans Tietze.
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In den Lünetten der den Fenstern gegenüberliegenden Wand ist die Sage von Anfinomus und
Anapus und der Tod der Medusa dargestellt; die Lünetten über den Fenstern sind durch deren Höhe
etwas verkürzt; in jeder sehen wir einen fliegenden weiblichen Genius mit einem Lorbeerkranz in der
Hand. Bei diesen Bildern ist es mir mangels von Zeichnungen nicht möglich, das Werden der Kom-
position zu verfolgen; mir ist nur eine Studie zu dem erstgenannten Bilde in Windsor (II, 32) bekannt.1
Im einzelnen werden wir bei diesen Bildern des «Camerino» oft an Correggio und seine Schule
erinnert; aber auch die Gesamtidee der Dekoration hat dort angeknüpft und Araldis prächtige Decken-
Fig. 12. Annibale Carracci, Kohlenzeichnung zu dem Bild: Odysseus vor Circe.
Louvre.
maierei im Dome von Parma war Annibales nächstes Vorbild. Trotz dieser correggesken Reminiszenzen
im ganzen und im einzelnen machen sich neue Züge geltend. Die zahlreichen Studien zu den Bildern
zeigen, was für Fragen den Künstler zu beschäftigen beginnen; ein neuerwachtes Interesse an der Form
spricht sich darinnen aus. Anekdoten erzählen uns von dem fanatischen Eifer, mit dem Annibale nach der
Antike studierte;2 schon hier, am Anfang dieser Entwicklung, werden wir geneigt sein, wenigstens den
Kern dieser Erzählungen zu glauben. Die Proportionen der Gestalten sind verändert; die Leiber werden
überlang, der Kopf ist klein; der Herkules auf dem Atlasbilde oder auf dem Bilde, das ihn ruhend zeigt,
gibt uns einen deutlichen Fingerzeig, woher diese Änderung stammt; der Eindruck des farnesischen
Vortrage gebracht. Die Komposition geht auf ein Fresko des Tibaldi im ehemaligen Palazzo Poggi (jetzt Universität) in
Bologna zurück (abgebildet bei Zanotti, Le Pitture di Pellegrino Tibaldi. . . nell'Instituto di Bologna, 1756); der dargestellte
Moment ist derselbe, die Geste des Odysseus ist identisch, auch die sich verwandelnden Gefährten stimmen bis ins Detail
überein. Daß Annibale den betreffenden Saal genau kannte, werden wir später hervorzuheben haben.
1 Den Karton zum ruhenden Herkules besaß Maratta; in seiner Sammlung befand sich auch eine Zeichnung zu Anfi-
nomus und Anapus. Bei Bellori befanden sich zwei Zeichnungen zum Herkules am Scheidewege und eine zum Perseus, der
die Medusa tötet (Vittoria, p. 52).
2 Bellori, p. 9.