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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 26.1906/​1907

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I. Theil: Abhandlungen
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Suida, Wilhelm: Die Spätwerke des Bartolommeo Suardi, genannt Bramantino
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https://doi.org/10.11588/diglit.5946#0365
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Wilhelm Suida.

und Beobachtung. Bezüglich der ersten Art mit Hilfe der Berechnung will ich Bramantinos eigene Worte
genau wiedergeben, weil er den Kern der Sache in wenigen Worten so trefflich erfaßte, daß man es
meiner Ansicht nach nicht besser sagen könnte.

Kap. XXII. Erste Art der Perspektive nach Bramantino: Bei der ersten Art der Perspektive kann
man die Gegenstände ganz genau darstellen, bei der zweiten niemals, bei der dritten annähernd. Die
erste Art der Perspektive beruht auf der Berechnung der Wirkung des Auges, indem sie die Gegenstände
größer und kleiner werden läßt nach der Wirkung der Augen. Dieses Wachsen und sich Verringern
wird nicht durch die Gegenstände selbst bewirkt, welche deshalb, weil sie näher oder ferner sich be-
finden, nicht größer oder kleiner
werden können, sondern es ist eine
Folge der Augen, die kleiner sind
und deshalb in dem Bestreben,
große Gegenstände zu sehen, ihre
Sehkraft aussenden müssen, die
sich in unermeßlichen Fernen aus-
breitet, alles erfaßt, was sie wahr-
nehmen will, und, zu den Gegen-
ständen hingelangend, deren Lage
im Räume erkennt. Und der Raum
der Sehpyramide ist ganz von dem
Gegenstande erfüllt. Legt man da-
her Schnitte durch die Sehpyra-
mide an verschiedenen Stellen, so
erscheint die Schnittfläche kleiner
oder größer, je nach der Lage der
Schnitte; aber wenn sich weder
Gegenstand noch Auge in ihrer
Lage ändern, wird das Bild immer
das gleiche sein. Größer oder klei-
ner aber wird es aus, mehrfachem
Grunde erscheinen können, erstens
bei Annäherung oder Entfernung
des Gegenstandes vom Auge; nähert
er sich, erscheint er größer, entfernt
Fig. 51. Bernardino de'Fazoli, Heilige Familie. er sich, erscheint er kleiner für

Berlin, Kaiser Friedrich Museum. unsere Wahrnehmung. Und das ge-

schieht, weil das Phantasiebild da
entsteht, wo der Schnitt durch die Sehpyramide gelegt wird; deshalb erscheint ein Gegenstand größer
oder kleiner, wenn er näher dem Auge sich befindet oder von demselben entfernter ist. Aber der Ge-
genstand verändert nicht seine Größe, weil er ferner oder näher ist, sondern die scheinbare Verände-
rung erklärt sich aus dem Standorte des Auges, das, je nachdem es mehr oder weniger vom Gegen-
stande wahrnimmt, diesen selbst für größer oder kleiner hält, denn von dem entfernten Gegenstande
nimmt es weniger auf. Und auf Grund dieser Regel kann man viele schöne Dinge wahrnehmen und
darstellen. Und wisse, daß diese perspektivische Darstellung, die auf Berechnung, Messung und Regel
beruht, mit dem Winkelmaße, Lineal und den Maßeinheiten zur Anwendung gebracht wird, das ist mit
Elle, Zoll, Minute, Rute und Meile. Und nichts wird dargestellt, von dem man nicht die Größe in der
Nähe und in der Ferne genau kennt im ganzen und in allen seinen Teilen.

Kap. XXIII. Zweite Art der Perspektive nach Bramantino. Die zweite Art macht man ohne jedes
Maß (Hilfskonstruktion), indem man einfach das, was man sieht (natürliche Erscheinung), wiedergibt
 
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