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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 27.1907-1909

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I. Theil: Abhandlungen
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Gruenwald, Alois: Über einige Werke Michelangelos in ihrem Verhältnisse zur Antike
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https://doi.org/10.11588/diglit.5947#0134
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Alois Grünwald.

stamm, das Anfassen der Basis mit der Linken. In der ganzen Haltung herrscht eine außerordentliche
Ähnlichkeit, die durch eine Reihe von Analogien noch gesteigert wird. Wenn die antike Nike ihren
Leuchter nicht mit der bloßen Hand sondern mit Tüchern anfaßt, so berührt auch Michelangelos Engel
den seinigen nicht direkt mit der Linken sondern unter Zuhilfenahme des Gewandes; wenn beim Pariser
Relief der Busen und die Arme entblößt, die übrigen Partien bekleidet waren, so hüllt Michelangelo

Brust und Arme in enger an-
schließendes Gewand, während
die dort bekleideten Teile in
schweren dicken Stoffen stecken;
der Bausch vor dem linken Knie
kehrt bei Michelangelo in ähnli-
cher Weise wieder. Das Auffäl-
ligste aber ist gewiß der Falten-
zug, der den Rücken umrahmt,
— bei der Antike ergibt er sich
ohneweiters aus der Entblößung
der Brust, bei Michelangelo kehrt
er ohne einleuchtende Motivie-
rung unverändert wieder. Für die
Provenienz der Nike ist es nicht
ohne Bedeutung, daß sich die näm-
liche Bildung, gleich frei verwen-
det, schon 1493/94 bei der Ma-
donna an der Treppe findet, die
übrigens in der ganzen Haltung
des Oberkörpers, vor allem aber
in der Armstellung, mit dem Pa-
riser Relief merkwürdig überein-
stimmt. Michelangelo muß eine
Replik dieses Werkes wohl schon
von Florenz her gekannt haben.

Nicht die holde Kindlichkeit
der Renaissanceschöpfungen, nicht
die voll entwickelte Weiblichkeit
des antiken Reliefs hat Michel-
angelo zum Gegenstand seiner
Darstellung gewählt sondern ein
Ubergangsstadium, in dem die
Formen zwar den Charakter kraft-
voller Festigkeit gewonnen haben,

die Weichheit und Rundung des gereiften Alters aber noch vermissen lassen. Die Füße sind verhältnis-
mäßig größer als die der Nike, die Hände weniger nervös, der Hals mehr gedrungen. Wohl schimmert
in Einzelheiten, wie dem kräftigen Kinn, dem halb geöffneten Mund, der gerade absteigenden Nase,
den zu ihr beinahe senkrecht stehenden, nur wenig gewölbten Augenbrauen, den weit geöffneten Augen,
das antike Vorbild leise durch; aber dem Blick fehlt das feuchte, träumerische Element, den Lippen der
feine Schnitt, der Stirn die vornehme praxitelische Bildung, dem Haar seine Weichheit, der Frisur
ihr künstlerischer Geschmack. Der Zauber edler Weiblichkeit, der das antike Antlitz verklärt, seine
bei leiser Trauer sonnige Schönheit kehrt bei Michelangelo nicht in gleicher Weise wieder. Energie,
nicht Hingebung ist der Grundzug im Charakter des Bologneser Engels, sein Gesicht gleicht ein

Michelangelos Bologneser Engel.
 
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