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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 27.1907-1909

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I. Theil: Abhandlungen
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Gruenwald, Alois: Über einige Werke Michelangelos in ihrem Verhältnisse zur Antike
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https://doi.org/10.11588/diglit.5947#0160
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Alois Grünwald.

forschung wie Michelangelo über die Grundlagen unterrichtet, aus denen Ghibertis Schöpfungen hervor-
gewachsen sind, sie würde ähnliche Worte der Liebe und Bewunderung finden.

Muß nicht jede theoretische Reflexion auf den Lippen ersterben, wenn man sieht, welch herrliches
Kunstwerk aus dem Hirten einer antiken Mediceergemme1 (Fig. 28) an Ghibertis Paradiesestür (Fig. 29)
geworden ist? Hier sind Worte überflüssig; sollten wir von gesteigerter Raumwirkung, Veränderung
der Ponderation durch Drehung der Figur als Ganzes, von Entblößung und scharfer Betonung der Ge-
lenke sprechen, wo eine Grazie, eine Vornehmheit, ein Stimmungszauber sondergleichen die Seele
völlig gefangen nimmt? Der ganze Reichtum, über den der Künstler verfügte, nachdem sich das unge-
stüme Drängen seiner Jugend zu vollendeter Harmonie geklärt hatte, ist über diese Schöpfung aus-
gegossen; nur seine Frauen, deren zarteste Formen mit Liebe empfunden, deren jede Regung nach-
gefühlt ist, bilden vielleicht das Allerschönste, was Ghiberti geschaffen hat. Niemand würde vermuten,

daß jene wundervolle Figur in der
Mitte der Geschichte Josefs (Fig. 31)
auf ein Werk wie die steife, kalte
Eckfigur einer römischen Aschen-
urne2 (Fig. 3o) zurückgeht; so viel
Liebreiz, so viel amutige Bewe-
gung, so viel echt weibliches Fein-
gefühl liegt in der ganzen Haltung:
den weichen Biegungen des linken
Armes, dem zarten Anschmiegen
der Hand, der leichten Wendung
des Köpfchens, dem keuschen Auf-
raffen des Kleides. Nur ein Künst-
ler wie Ghiberti, dem die Sehn-
sucht nach der Schönheit des weib-
lichen Körpers einst die Worte ent-
Fig. 32. Leda nach Michelangelo. lockte, nur bei Berührung mit den

Dresden, kgi. Galerie. Händen könne man von der «dol-

cezza» einer antiken Aphrodite-
statue vollen Eindruck gewinnen, vermöchte einer Schablone solches Leben einzuhauchen.

Michelangelo kannte die Antiken, die Ghiberti einst besessen hatte, alle, da sich die Sammlung
noch in den zwanziger Jahren des XVI. Jahrhunderts in Florenz befand und erst gegen 1530 durch Vet-
torio, den Urenkel des großen Lorenzo, verschleudert wurde; was der ältere Meister sonst in Florenz
und Rom gesehen haben konnte, dürfte im großen und ganzen gleichfalls später noch vorhanden ge-
wesen sein. Damit sind die Bedingungen für Michelangelos Vertrautheit mit dem Ledarelief gegeben
und ein Zusammenhang mit der «Nacht» läßt sich nach dem Gesagten nicht mehr gut von der Hand
weisen. Vielleicht wird man geneigt sein, nur an eine unbewußte Reminiszenz aus Jugendtagen zu
denken, doch scheint zu einer solchen Einschränkung kein stichhältiger Grund vorhanden zu sein. Der
Gegenstand der Darstellung bildete für Michelangelo gewiß kein Hindernis, das antike Ledamotiv in
seiner «Nacht» zu verwerten. Engherzigkeit dieser Art war der Renaissance fremd. Hatte nicht schon
Ghiberti aus dem sogenannten Ilioneus, in dem wir einen Ganymed erblicken, einen Isaak, aus der Leda
einen Geldwechsler, aus dem Sonnengott Mithras 3 einen David gemacht u. dgl. m.? Hat nicht schließ-

1 Museo Archeologico, Saal XIX, Schrank VIII, Nr. 208, bei Gori, Tom. I, Taf. I, 10; die entsprechende Figur auf Ghi-
bertis zweiter Tür im Relief der Geschichte Abrahams ganz rechts.

2 Corpus Inscriptionum Latinarum V, Pars I, 883, einst in Padua, heute in Este, Museum Nr. 9, gestochen in den
Monumenta Patavina (Ursatus, 1652), p. 261.

3 Man vergleiche etwa den Mithras auf einer Zeichnung Heemskerks, abgebildet im Jahrbuch des deutschen archäo-
logischen Instituts VI, S. 141.
 
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