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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 33.1916

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I. Theil: Abhandlungen
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Planiscig, Leo: Geschichte der venezianischen Skulptur im XIV. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.6168#0102
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Leo Planiscig.

was wir vergeblich an den Figuren des Enrico-Grabmales in Treviso suchen würden. Man ver-
gleiche das Ohr des hl. Franziskus am Odorico-Sarkophag (bei dieser Figur kommt es auf
der photographischen Wiedergabe besser zur Geltung) mit jenem des Evangelisten: zwischen der
Aushöhung und dem äußeren Rande ist ein Grübchen gebildet und ein Teil des Knorpels gehoben,
der sich im Ohrlappen verliert. Auch manche glatte, beinahe kalligraphisch umgeformte Gewand-
falte kommt am rechten Arme des Evangelisten und beim hl. Franziskus in gleicher Art vor. Das-
selbe gilt für den aufgeschlagenen Ärmel und für die rundliche, etwas ins Dicke fallende Form
des Unterarmes, der daraus hervortritt. Die bestehende Stilähnlichkeit zwischen beiden Werken
zwingt unbedingt zu der Annahme einer Werkstatt, aus der sie gemeinsam hervorgegangen sind.
Dabei darf man den B. Simeone, das Werk des Marcus Romanus, nicht außer acht lassen: es ist
die Grundlage für die Figur des B. Odorico sowie für die des Evangelisten Johannes gewesen.
Aus ihm schöpften Filippo de Sanctis und seine engere Werkstatt einen neuen Typus, der ver-
vielfältigt wurde. Nicht in dem Noah des Dogenpalastes, wie Ruskin und alle jene, die ihn

abschrieben, meinten, spiegelt sich das Vorbild der Prophetenfigur von S. Simeone grande, sondern
in nicht minder wichtigen, zeitlich dieser Figur viel näher stehenden Werken, die ihnen wegen
ihres Aufstellungsortes, hauptsächlich aber wegen des geringen Interesses für die venezianische
Trecentoskulptur unbekannt geblieben sind.

Noch einmal muß ein wichtiges Moment hervorgehoben werden: der Evangelist Johannes hat
keine direkten Berührungspunkte mit der Kunst des Giovanni Pisano. Er entfernt sich aber auch
von jener Tinos. Vergeblich wird man an den neapolitanischen Gräbern oder an seinen Werken
in der Toskana Skulpturen suchen, die man dieser an die Seite stellen könnte. Auch mit lom-
bardischen Werken steht unser Johannes in keiner Beziehung. Die Formensprache des Giovanni
di Balduccio ist noch stark pisanisch, auch in der lombardischen Umwertung seiner Nachfolger.
Der allgemeine Stilcharakter unserer Figur neigt mehr nach Frankreich hin. In dieser Beziehung
ist sie fortgeschrittener als die gleichzeitige florentinische Kunst, deren Repräsentant Andrea da
Pontedera trotz seines neuen Stiles noch im pisanischen Geiste arbeitet.

Daß die Figuren des Odorico-Grabmales und jene des Evangelisten einem engeren Kreise,
einer speziellen Werkstatt des venezianischen Trecento angehören, erhellt noch aus dem Umstände,
daß sie im weiteren Verlauf der Entwicklung einer neuen Stilrichtung weichen müssen. Vielleicht
löste sich die Werkstatt mit dem Tode Filippos auf; denn wir finden kaum mehr Anklänge seiner
Kunst in der nachfolgenden bildhauerischen Produktion Venedigs. Nur noch eine Figur könnte
erwähnt werden, die mit dem B. Odorico, respektive mit dem B. Simeone manche Ähnlichkeit
 
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