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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 33.1916

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I. Theil: Abhandlungen
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Planiscig, Leo: Geschichte der venezianischen Skulptur im XIV. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.6168#0110
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102

Leo Planiscig.

Jedes dieser verschiedenen Urteile hat seine Berechtigung. Der Madonna des Arduin fehlen
wirklich alle jene byzantinischen Merkmale, die an der fast gleichzeitigen Area des Dogen Fran-
cesco Dandolo (Fig. 24) so deutlich hervortreten. Gabelentz hat auch vollkommen Recht zu be-
haupten, dieses Relief offenbare den neuen gotischen Geist. Es ist aber nicht das erste Beispiel
dafür in Venedig, wie Meyer glaubt. Eine Reihe von Denkmälern, die in den vorhergehenden
Kapiteln behandelt wurden, widerlegen diese Ansicht. Die Carmini-Madonna ist nicht das erste
Glied einer Entwicklungsreihe, sondern eher einer der letzten Ausläufer der einheimischen Um-
formung jenes Dugentoeinflusses, der einige Jahrzehnte hin-
durch in der venezianischen Skulptur tonangebend war. Trotz
des Aufflackerns einer erneuten byzantinischen Kunst und
trotz ihrer Wirkung bis hinauf in die erste Trecentohälfte
bleibt der gotische Einfluß als die mächtigere Komponente
in der allgemeinen Kunstentwicklung auch für Venedig etwas
Konstantes, gleichgültig ob er nun von der Lombardei oder
von der Toskana eindringt. Das Arduino-Relief gehört eher
der älteren, lombardischen Richtung dieses Einflusses als der
späteren toskanischen an. Nur das historisch-literarische In-
teresse, das durch die Inschrift diesem Werke verliehen wurde,
verschaffte ihm einen allzu hohen Platz in der Geschichte
der venezianischen Trecentoskulptur. Wenn es auch dem
Stile nach verschieden ist von den byzantinisierenden Produk-
ten, die allmählich an Bedeutung verlieren, so darf man
doch wohl nicht vergessen, daß der gotisch-toskanische Ein-
fluß Werke hervorgebracht hat, die zumeist früher als diese
unbedeutende Madonna entstanden sind.1

Eine Verbindung der neuen toskanisch-gotischen Ele-
mente mit der venezianisch-einheimischen Richtung ver-
anschaulicht uns ein anderes Relief, das um fünf Jahre jün-
ger als jenes des Arduin ist und das ebenfalls, sei es durch
seine auffällige Aufstellung, sei es durch die Datierung, in der kunsthistorischen Literatur seit
Cicognara immer Erwähnung gefunden hat: das Relief der thronenden Madonna mit dem
Kinde über dem Eingang in die ehemalige Scuola della Caritä (jetzt Akademie) zu Venedig
aus dem Jahre 1345 (Fig. 66). Die Madonna wiegt auf ihren Knien das Kind, das eine Rolle in
der Hand hält. An den Seiten des Thrones Engelsfiguren mit Leuchtern. Zu Füßen der Ma-
donna vier kleine, kniende Donatorenfiguren. Auf dem unteren Rand der Reliefplatte folgende
Inschrift:

MCCCXLV • ILO TENPO DNIS MARCO ZVLIÄ FO
FATTO QVESTO LAVORIER.

Fig. 66. Madonnen-Relief (1345)
Venedig, Scuola della Caritä.

Cicognara2 hielt dieses Werk für nicht direkt venezianisch und versuchte seine Meinung durch
Heranziehung der Reliefs am Sarkophag des Dogen Andrea Dandolo (f 1354) in S. Marco zu

1 Fulin-Molmenti a. a. O., p. 357, nehmen dieses Stück als Musterbeispiel für die venezianische Skulptur um 1340.
Sie sagen: «Abbiamo citato questo rozzo bassorilievo perche importante alla storia dell'arte. Esso ci offre una prova di piü
che ben lontana del punto raggiunto dagli scultori di Napoli e di Firenze a quelle epoche rimase la scultura veneziana fino
e mezzo il secolo XIV.» Dies ist auch ungefähr die allgemeine Ansicht, der wir aber die Area des Castellano, jene des
Odorico da Pordenone, das Evangelistenrelief von S. Simeone grande und das Gradenigo-Grabmal als Werke ersten Ranges
gegenüber stellen können!

2 Cicognara a. a. O. III, p. 351 (vgl. auch Kap. IV, S. 64); Selvatico a. a. O., p. 104; Quadri, Otto giorni a Venezia,
Venedig 1824, p. 133; Fulin-Molmenti a. a. 0., p. 363: falsch 1377 datiert; C. Schnaase a. a. O. V, S. 473; Perkins
a. a. O. II, p. 193; A. G. Meyer, Das venez. Grabdenkmal etc., a. a. O., S. 82; Gabelentz a. a. C1., S. 2i3; Molmenti
a. a. O. I, p. 370; Pauli a. a. O., S. 60; Cicerone, X. Aufl., S. 427.
 
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